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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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genommen hatte, als Paul schlief. Es wurde kein Wort über die Besitzwechsel verloren, aber das scharfe, funkelnde Ding war wie eine dritte Person zwischen ihnen, eine Frau, die sie nicht beide haben konnten. Paul musterte den Mann, um sich darüber klarzuwerden, welche Rolle er in dem Ganzen spielte. Obwohl es unter den Untertanen des Odysseus auf Ithaka recht unterschiedliche Schattierungen gegeben hatte, schien der Fremde für einen Griechen dennoch zu dunkel zu sein, und er war der erste Schnurrbartträger, den Paul bis jetzt in dieser Simulation gesehen hatte. Der geschickte Umgang des Mannes mit Messer und Segeltuch brachte ihn zu dem Schluß, der Fremde müsse ein Phönizier oder Kreter sein, ein Angehöriger der Seefahrervölker, deren Namen noch einen staubigen Platz in Pauls Erinnerungen aus der Schulzeit innehatten.
    Im letzten Licht der Dämmerung banden sie das abgebrochene Maststück mit Stoffstreifen als Rahe quer an den Rumpfmast und befestigten dann das Behelfssegel daran. Als die kühlen Brisen aufkamen, machte der Fremde mit dem übrigen Segel ein einfaches Zelt, obwohl unmittelbar kein Bedarf mehr bestand.
    »Wenn wir uns in der Richtung halten«, erklärte er, wobei er zu den ersten Sternen des Abends emporspähte und dann nach Steuerbord zeigte, »stoßen wir in ungefähr einem Tag auf Land. Wir sollten bloß nicht in die Nähe von …« Er stockte und blickte Paul an, als wäre ihm eben erst aufgefallen, daß es den anderen auch noch gab. »Wo willst du eigentlich hin?«
    »Nach Troja.« Paul schaute seinerseits prüfend zu den Sternen auf, als könnte er ihnen irgend etwas entnehmen, aber er hatte keine Vorstellung davon, wo Troja lag, nicht mehr als davon, wie er jemals in sein reales und geliebtes irdisches England zurückkam.
    »Troja?« Der Fremde zog eine kohlschwarze Braue hoch, aber sagte nichts weiter. Paul überlegte, ob er sich mit der Absicht trug, das Floß in seine Gewalt zu bringen – vielleicht war er ja ein Deserteur aus dem Trojanischen Krieg! Er mußte sich bezähmen, nicht auf das Messer zu blicken, das wieder im Leibriemen des Mannes steckte, wobei dieser zudem noch ein gutes Stück größer als er und um einiges schwerer war und nur aus Muskeln zu bestehen schien. Ihm kamen plötzlich Bedenken, sich schlafen zu legen, obwohl die Müdigkeit an ihm zerrte, doch er sagte sich, daß der Fremde ihm nach der Rettung, als Gelegenheit gewesen war, auch nichts getan hatte.
    »Wie heißt du?« fragte Paul unvermittelt.
    Der andere sah ihn abermals lange an, als ob die Frage sonderbar wäre. »Azador«, antwortete er schließlich mit dem Gebaren eines Mannes, der einen Streit schlichtet. »Ich heiße Azador.«
     
    Nur gut, sinnierte Paul, daß er sich mittlerweile ans Alleinsein gewöhnt hatte, denn Azador war nicht gerade ein Ausbund an Gesprächigkeit. Der Fremde saß fast eine Stunde schweigend unter den Sternen, die über ihnen und an allen Seiten ihre Bahnen durch die ungeheure Schwärze zogen, und reagierte auf Pauls schläfrige Bemerkungen und Fragen nur mit einem gelegentlichen Knurren oder einem ausweichenden Lakonismus, bis er sich zuletzt an Deck ausstreckte, den Kopf auf den Arm bettete und die Augen schloß.
    Zudem hatte Paul sich unlängst an der Gesellschaft Kalypsos sättigen können, und auch wenn sie meistens nicht mehr von sich gegeben hatte als süßes Gesäusel und leidenschaftliche Anfeuerungen, war das doch sehr viel besser gewesen als nichts, so daß ihn jetzt das Schweigen des Fremden mehr nachdenklich stimmte als daß es ihn verärgerte. Vielleicht war es ein getreuer Ausdruck der antiken Seele, überlegte er, das Verhalten eines Menschenschlags vor der Zeit höflicher Geschwätzigkeit.
    Es dauerte nicht lange, bis er selber in der lauen Nacht einschlief, in der er weder Decke noch Kissen brauchte. Das langsame, himmelweite Feuerrad der Sterne war das letzte, was er sah.
     
    Er wachte am Ende der Nacht kurz vor Morgengrauen auf und wußte zunächst nicht, was ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Nach und nach wurde er sich einer eigentümlichen, sanften Melodie bewußt, so vielsträngig wie Penelopes Gewebe und anfangs so leise, daß sie beinahe ein Aushauch der See und ihres schillernden Schaums zu sein schien. Er lauschte lange in schläfriger Entrücktheit, verfolgte das Auf und Ab der einzelnen Elemente, die aus dem Chor hervortraten und sich wieder darin auflösten, bis ihm plötzlich klar wurde, daß er singende Stimmen hörte, menschliche Stimmen oder

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