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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ich anhabe?« Er deutete auf sich, dann auf Pauls abgerissenen Chiton. »Oder dein kleines Handtuch?«
    »Schon gut, schon gut!« Paul sackte gegen den schlammigen Rand der Grube. Der Regen ließ gerade ein wenig nach, aber fühlte sich immer noch an, als trommelte ihm jemand mit den Fingern auf den Kopf – der jedoch auch ohne das Getröpfel nicht von glänzenden Ideen gestrotzt hätte. Ein geisteswissenschaftlicher Abschluß mochte einen dazu befähigen, mythische Ungeheuer zu erkennen, aber er nützte überhaupt nichts, wenn man ihnen leibhaftig gegenüberstand. »Laß mich nachdenken.«
     
    Letztendlich fiel ihm nichts Besseres ein, als Odysseus’ ursprüngliche List ihrer leicht veränderten Situation anzupassen.
    »Sie waren drinnen, verstehst du, und mußten raus«, erklärte er Azador, der sich nicht die Bohne für die literarische Vorgeschichte des Plans interessierte und emsig damit beschäftigt war, den Griff des Messers im gespaltenen Ende eines langen, geraden Astes festzubinden. »Wir müssen rein, aber dazu müssen wir warten, bis er schläft. Zu schade, daß wir keinen Wein haben.«
    »Da hast du ausnahmsweise mal recht.«
    »Ich meine, wie damals bei Odysseus – um den Zyklopen damit einzuschläfern.« Er rappelte sich auf. Sein Herz hämmerte bei dem Gedanken, was sie erwartete, aber er zwang sich, mit möglichst ruhiger Stimme zu sprechen. »Apropos, er müßte eigentlich mittlerweile schlafen – es ist seit einer Stunde dunkel.«
    Azador wog den behelfsmäßigen Speer in der Hand, um sich davon zu überzeugen, daß er gut ausbalanciert war, dann stand er auf. »Na los, dann bringen wir den Kerl jetzt um.«
    »Nein, doch nicht so!« Eine Welle der Angst überschwemmte Paul: Es war wirklich nicht der tollste Plan der Welt. »Hast du nicht gehört, was ich grade gesagt habe? Erst müssen wir zusehen, daß der Eingang auf ist …«
    Sein Gefährte schnaubte. »Weiß ich – meinst du, Azador ist blöde? Los jetzt.« Und damit kraxelte er den Rand des Grabens hinauf.
    Auf dem Weg zurück zum Gipfel schauten sie sich nach einem gestürzten Stamm von der richtigen Dicke um; schließlich fanden sie ein Stück, das ihnen geeignet erschien, obwohl es dünner war, als Paul es sich gewünscht hätte. Es war gerade kurz genug, daß der kräftige Azador es hochheben und tragen konnte, wozu er allerdings seinen selbstgebastelten Speer abgeben mußte. »Wenn du mein Messer verlierst«, teilte er Paul feierlich mit, »reiß ich dir die Eier ab.«
    Es hatte aufgehört zu regnen. Das lange Gras vor der Höhle klatschte ihnen noch naß an die Beine, aber der Himmel war klar und der Mond gab gerade genug Licht, daß sie den schroffen Umriß des Bergkamms vor sich erkennen konnten. Azador trat vorsichtig neben den Einsang, bemüht, den Stamm nicht über den Boden zu schleifen, während Paul Steine aufsammelte. Als Azador bereitstand, atmete Paul noch einmal tief durch, dann fing er an, die Wurfgeschosse gegen den Felsen zu schleudern, der den Eingang versperrte.
    »Ho! Einauge!« schrie er, als die Wacker gegen den Türstein knallten. »Komm raus, du fettes Stinktier! Gib mir mein Floß zurück!«
    »Autsch! Idiot!« fluchte Azador, als einer der Steine von der Tür abprallte und ihm ans Bein sprang.
    »Komm raus, Einauge!« brüllte Paul. »Wach auf! Du bist potthäßlich, und deine Mutter zieht dir komische Sachen an!«
    »So dämlich hab ich noch nie jemand schimpfen gehört«, zischte Azador, doch da rutschte die große Steinplatte im Eingang kratzend und knirschend zur Seite. Das verglimmende Licht eines Feuers im Innern ließ die Öffnung wie den Schlund der Hölle glühen. Eine ungeheure Gestalt schob sich vor die Glut.
    »Wer verhöhnt Polyphem?« Die Stimme dröhnte über den Berg. »Wer ist dort draußen? Einer meiner nichtsnutzigen Vettern?«
    »Niemand ist’s!« Pauls Stimme, ohnehin ein Vogelzwitschern im Vergleich zu dem Rumpelbaß des Riesen, war mit einemmal geradezu peinlich piepsig geworden. Als der Zyklop auf die Schwelle trat, wehte mit ihm ein Gestank nach nassem Schafsfell und verfaulendem Fleisch heraus; Paul mußte den schier übermächtigen Drang bezähmen, laut kreischend davonzulaufen. Nur indem er sich nachdrücklich klarmachte, daß Azador in Reichweite des Riesen war und daß er selbst die Aufgabe hatte, das Scheusal abzulenken, konnte er sich zur Tapferkeit zwingen, wenn auch bloß in sehr bescheidenem Maße. »Ich bin Niemand, und ich bin ein Geist!« schrie er so eindrucksvoll,

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