Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
ein ungewöhnliches Gefühl.
    Während er genüßlich Tauwasser aus der Hand schlürfte, erst einen kleinen Schluck, um sich den Fischgeschmack aus dem Mund zu spülen, bevor er den Rest trank, hatte er plötzlich eine Vision davon, daß er genau das gleiche tat, aber ganz woanders. Er schloß die Augen, und einen kurzen Moment lang sah er sich rings von Pflanzen umgeben, dicht wie ein tropischer Urwald. Frisches Wasser rann ihm durch die Kehle, dann spritzte ihm Wasser ins Gesicht … eine Frauenstimme lachte …
    Ihre Stimme, begriff er plötzlich. Es ist der Engel. Aber nichts dergleichen war ihm jemals widerfahren – nicht in dem Teil seines Lebens, an den er sich erinnern konnte.
    Eine ganz unwahrscheinliche Störung unterbrach ihn in seinen Gedanken, und die Anwandlung verwehte wie Rauch.
    »Wo bist du her, Ionas?« fragte Azador.
    Aus Erinnerungen gerissen, die ihm äußerst wichtig vorkamen, zumal durch eine Frage von seinem ansonsten so schweigsamen Gefährten, verschlug es Paul erst einmal die Sprache. »Aus Ithaka«, stieß er schließlich hervor.
    Azador nickte. »Hast du dort eine dunkelhäutige Frau gesehen? Begleitet von einem zahmen Affen?«
    Verdutzt konnte Paul die Frage nur wahrheitsgemäß verneinen. »Ist sie mit dir befreundet?«
    »Ha! Sie hat etwas von mir, und ich will es wiederhaben. Niemand nimmt Azador was weg.«
    Paul spürte eine Tür aufgehen, aber wußte nicht recht, wie er das Gespräch am Laufen halten sollte, und genausowenig, ob es sich überhaupt lohnte. Wollte er wirklich die vorprogrammierte Lebensgeschichte eines phönizischen Seemanns in einer virtuellen Odyssee hören? Die Chancen, daß ein Schiffbrüchiger ihm irgend etwas Nützliches zu sagen hatte, waren nahezu null. Auf jeden Fall gab es näherliegende und praktischere Erkundigungen, die er bei Azadors plötzlicher Redseligkeit einziehen konnte.
    »Kennst du eigentlich diesen Teil des Meeres?« fragte Paul. »Wie lange werden wir bis Troja brauchen?«
    Azador sah dem abgenagten Fischskelett ins Auge wie Hamlet dem Schädel Yoricks, dann schleuderte er es hoch über den Rand des Floßes. Eine Möwe kam wie aus dem Nichts herbeigeschossen und schnappte es sich, bevor es im Wasser aufkam. »Das weiß ich nicht. Die Strömungen sind tückisch, und es gibt viele Inseln, viele Felsen.« Er spähte übers Meer. »Wir müssen sowieso bald irgendwo an Land gehen. Es dauert nicht mehr lange, bis dieser kaputte Mast wieder bricht, wir brauchen also neues Holz. Außerdem muß ich Fleisch haben.«
    Paul lachte über den Ernst, mit dem er das sagte. »Wir haben doch grade einen Fisch gegessen – obwohl er gebraten natürlich besser geschmeckt hätte.«
    »Keinen Fisch«, knurrte Azador verächtlich, »Fleisch. Ein Mann braucht Fleisch zu essen, wenn er ein Mann bleiben will.«
    Paul zuckte mit den Achseln. Ihm schien das ihr geringstes Problem zu sein, aber er wollte keinen Streit mit einem Kerl anfangen, der Seile spleißen und Tau fangen konnte.
     
    Am späten Nachmittag kam gerade schlechtes Wetter auf, eine rasch von Westen aufziehende Wolkendecke, als sie die Insel und ihre dicht überwucherten grünen Berge erblickten. Unter dem Knarren des Ruders und des bruchgefährdeten Mastes kreuzten sie schlingernd in den Wind, doch sie konnten keinerlei Anzeichen menschlicher Behausungen erkennen, kein Schimmern von steinernen Mauern oder weiß getünchten Lehmhäusern. Falls irgendwo Feuer brannten, dann verlor sich der Rauch in dem dichter werdenden Wolkendunst.
    »Ich kenne diese Insel nicht«, brach Azador ein gut einstündiges Schweigen. »Aber sieh mal, oben auf den Bergen wächst Gras.« Er grinste mit dünnen Lippen. »Vielleicht gibt es dort Ziegen oder sogar Schafe.«
    »Menschen könnten dort auch leben«, gab Paul zu bedenken. »Wir können uns doch nicht einfach die Schafe von jemand anders nehmen, oder?«
    »Jeder Mann ist der Held seines eigenen Liedes«, erwiderte Azador – ein wenig kryptisch, fand Paul.
    Sie setzten das Floß auf den Strand und gingen einen Weg die felsigen Hügel hinauf, während die Wolken immer näher kamen. Zunächst war es eine Wohltat, dem Meer entkommen zu sein und festen Boden unter den Füßen zu haben, doch als sie nach einer Weile ihr hölzernes Gefährt klein wie eine Spielkarte unten am steinigen Strand liegen sahen, grollte der Donner schon direkt über ihnen und fielen gerade die ersten dicken Regentropfen. Bald waren die Steine schlüpfrig und glatt, aber der halbnackte Azador sprang

Weitere Kostenlose Bücher