Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
wie er konnte, wobei er sich tief ins Gras duckte. »Du hast mir mein Geisterschiff weggenommen, und ich werde dich bis ans Ende deiner Tage heimsuchen, wenn du es mir nicht zurückgibst.«
    Polyphem beugte sich vor und drehte den Kopf hin und her, wobei sein Auge, in dem sich das Mondlicht spiegelte, wie ein breiter Suchscheinwerfer glänzte. »Ein Geist, der Niemand heißt?«
    Paul war eingefallen, daß Odysseus sich dieses Namens bedient hatte, und obwohl er nicht mehr recht wußte, warum der Held das getan hatte, war es ihm irgendwie sinnig vorgekommen. »Genau! Und wenn du mir nicht mein Boot zurückgibst, werde ich so lange spuken, bis dir die Haare vom Kopf fallen und die Haut an den Knochen schlottert!«
    Der Riese zog schnuppernd die Luft ein, daß es wie der Blasebalg eines Schmiedes klang. »Für einen Geist riechst du sehr wie ein Mensch. Ich denke, ich werde dich mir morgen holen, wenn es hell ist, und dich dann fressen. Vielleicht mit ein wenig Minzesoße.« Er wandte sich zum Eingang zurück.
    Verzweifelt sprang Paul auf. »Nein!« Er griff sich einen Stein, so dick wie eine Grapefruit, nahm Anlauf auf die Höhle und schleuderte ihn mit aller Kraft. Der Stein traf in die filzigen Zottelhaare und mußte gegen den Schädel geprallt sein, doch der Riese drehte sich nur langsam um, und eine einzelne struppige Braue ging über dem großen Auge nach unten. »Komm und fang mich doch, wenn du dich für so klug hältst!« Vor Todesangst zitternd erhob er sich und zeigte sich dem Ungeheuer. »Vielleicht gehe ich lieber deine Mutter besuchen – wie ich höre, läßt sie sich liebend gern von Fremden besuchen.« Er schwenkte die Arme wie ein durchgedrehter Flaggenwinker. »Und nicht nur besuchen, wie man sich erzählt.«
    Der Zyklop grollte und machte ein paar Schritte in seine Richtung, hoch aufragend wie der Bug eines Schlachtschiffes und stinkend wie eine ganze Tierverwertungsanlage. Paul mußte sich zusammennehmen, um nicht auf der Stelle umzukippen. »Was für ein kleiner Irrer bist du eigentlich?« donnerte Polyphem. »Über meine Mutter kannst du sagen, was du willst – die alte Hure hat mir nie einen Knochen gegeben, von dem sie nicht vorher das Fleisch abgenagt und das Mark ausgelutscht hatte –, aber du hast mich aufgeweckt und mich um meinen Nachtschlaf gebracht. Wenn ich dich kriege, werde ich dich zwischen den Bäumen aufspannen wie einen Schafsdarm und ein sehr garstiges Lied auf dir spielen.«
    Beinahe hysterisch vor Furcht erspähte Paul in den Schatten hinter dem Zyklopen eine Bewegung – Azador. Paul fing an, einen verrückten Tanz aufzuführen, durch das nasse Gras hin und her zu schießen, zu springen und mit den Armen zu fuchteln. Der Riese trat näher, das Tellerauge nunmehr kritisch zusammengekniffen. »Ob es die Tollwut hat?« überlegte Polyphem laut. »Statt es zu essen, sollte ich es vielleicht lieber zu Brei zermahlen und rings um die Wiese auf die Felsen schmieren, um die Wölfe von den Schafen fernzuhalten.«
    Obwohl er das Ablenkungsmanöver eigentlich fortsetzen wollte, waren der Gestank und die fürchterliche Größe der auf ihn zukommenden Gestalt für seinen schwindenden Mut zuviel. Paul schnappte sich den Speer und stürzte durch das Gras zum Wald zurück; er betete, daß er Azador genug Zeit verschafft hatte und daß der Mann nicht irrsinnig war und versuchte, das schwere Floß auf eigene Faust hinauszuschleifen.
    Der Boden bebte unter zwei schweren Schritten, und Paul schlug das Herz bis zum Hals.
    Ein Traum … Ich bin schon mal in diesem Traum gewesen … und der Riese wird zulangen und mich packen …
    Aber die Schritte hielten an. Als Paul den Schutz der Bäume erreichte, stand der riesenhafte Schatten immer noch da und schaute hin und her. Dann drehte er sich um und stampfte zur Höhle zurück. Es gab ein Rumpeln und Scharren, als er den Felsen wieder vor den Eingang setzte – war das ein Zögern, ein kurzes Stocken? Paul hielt den Atem an. Nur Stille schlug ihm entgegen. Mit Nerven wie durchschmorende Stromkabel taumelte er in die tiefere Finsternis.
     
    »Ich hab den Stamm dazwischengeklemmt«, sagte Azador, als er sich ein wenig erholt hatte. »Es hat sich nicht so angehört, als ob der Stein ganz rangegangen wäre.«
    »Dann können wir nur warten, bis er schläft.« In Wirklichkeit wünschte Paul, sie könnten viel länger warten. Die Vorstellung, sich in die Höhle des Menschenfressers mit ihren fluchtvereitelnden Wänden und ihrem Verwesungsgeruch

Weitere Kostenlose Bücher