Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
trotzdem flink und wendig wie eine der von ihm begehrten Ziegen weiter, und Paul blieb nichts anderes übrig, als leise fluchend hinter ihm herzuächzen.
Nachdem sie über eine Stunde bei strömendem Regen und zuckenden Blitzen bergan gegangen waren, traten sie aus einem Hain windgeschüttelter Buchen und standen auf einmal knietief im rauhen Gras. Unmittelbar vor sich sahen sie den Gipfel, einen schroffen Felsengrat von mehreren hundert Metern Länge, von knorrigen Kiefern gesäumt. Ein großes Loch, der Eingang zu einer Höhle, klaffte in der Wand wie die Tür eines unförmigen Hauses. Der Anblick erinnerte Paul an irgend etwas, und während das im Wind wogende Gras seine Beine peitschte und der Regen niederprasselte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß sie völlig ungeschützt waren.
Azador wollte weiter forsch voranschreiten, doch Paul packte seinen muskulösen Arm und hielt ihn zurück. »Nicht!«
»Was soll das?« fuhr Azador ihn an. »Willst du hier stehenbleiben, bis wir vom Blitz gegrillt werden? Haben sie dir ins Gehirn geschissen oder was?«
Bevor Paul sein ungutes Gefühl erklären konnte, vernahmen sie hinter sich im Wald ein schwaches, aber lauter werdendes Rascheln, das nicht vom Wind kam. Paul blickte Azador an. Ohne ein Wort zu sagen, warfen sie sich bäuchlings ins Gras.
Aus dem Rascheln wurde ein Trappeln. Etwas Großes bewegte sich nur einen Steinwurf weit entfernt durchs Gras. Ein Blitz zerriß das Halbdunkel und verwandelte die Welt in ein Schwarzweißbild; als Sekunden später der Donner krachte, zuckte Paul zusammen.
Azador stemmte sich auf die Ellbogen und schob die Halme ein Stück auseinander, um etwas sehen zu können. Wieder brüllte der Donner; in der anschließenden Stille hörte Paul zu seiner Überraschung ein leises Lachen.
»Guck«, sagte Azador und schlug Paul auf die Schulter. »Guck her, du Feigling!«
Paul schob sich ein wenig hoch und spähte durch die Lücke, die Azador gemacht hatte. Eine Schafherde zog an ihnen vorbei, ein Strom duldsamer Augen und triefend nasser Wolle. Azador hatte sich gerade aufgekniet, als sie ein neues Geräusch hörten, ein dumpfes, fernes Rumsen. Azador erstarrte, doch die Schafe wirkten unbekümmert und trotteten weiter über die Hochebene auf die Höhle zu. Das Geräusch ertönte erneut, lauter diesmal, dann wieder und wieder, wie das langsame Schlagen einer riesengroßen Trommel. Paul blieb gerade noch Zeit, sich zu fragen, wieso der Boden bebte, als der nächste Blitz den Himmel weiß aufleuchten ließ und sie ihr Floß über den Baumwipfeln auf sich zukommen sahen.
Azador fiel bei diesem Anblick vor Schreck der Unterkiefer herunter. Seine Hand stahl sich wie aus eigenem Antrieb an seine Brust und machte das Kreuzzeichen. Das Rumsen wurde lauter. Das Floß fuhr weiter knapp über den Wipfeln auf sie zu und schaukelte dabei, als ob die schwankenden Äste Meereswellen wären. Dem Blitz folgte der Donner, dann blitzte es abermals.
Die menschenähnliche Gestalt, die mit ihrem Floß über dem Kopf zwischen den Bäumen ins Freie gestampft kam, war das größte lebende Wesen, das Paul je gesehen hatte. Obwohl die Beine des Monstrums für menschliche Maßverhältnisse zu breit und zu kurz waren, befanden sich seine Knie dennoch so hoch über dem Boden wie der Kopf eines großen Mannes. Der übrige Körper war zwar halbwegs normal proportioniert, aber nicht minder riesig und maß von den Zehen bis zum zottigen Scheitel bestimmt sieben oder acht Meter. Azador stieß etwas hervor, das im Donner unterging, und Paul merkte plötzlich, daß der Kopf seines Begleiters über das Gras hinausschaute. Er zog Azador genau in dem Moment zu Boden, als der Riese anhielt und sich in ihre Richtung drehte, ohne jedoch das Floß abzusetzen. Er hatte den Mund voll lückenhafter Zahnstümpfe, sein Bart hing ihm auf die Brust wie eine nasse Filzmatte, aber es war das zwischen die Grashalme spähende tellergroße eine Auge, das Paul verriet, mit wem sie es zu tun hatten.
Abermals zuckte der Blitz. Das Auge starrte genau auf die Stelle, wo sie sich versteckten, und einen Moment lang war Paul überzeugt, daß er sie gesehen hatte, daß er gleich zu ihnen hinübertrampeln und ihnen sämtliche Knochen brechen würde. Während sie sich schreckensstarr duckten, blinzelte der Zyklop langsam wie ein Ochsenfrosch, dann tat er einen donnernden Schritt und noch einen, aber nicht in ihre Richtung, sondern zu seiner Höhle.
Mit immer noch angehaltenem Atem beobachtete Paul, wie
Weitere Kostenlose Bücher