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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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ein Junge wie er sich genauso aufführte, konnte er sich unter gar keinen Umständen vorstellen, daß er selbst sich jemals so aufführte – nicht Carlos Andreas Chascarillo Izabal. Nicht Cho-Cho.
    Er sah sie allein herumspazieren und langsam in die Nähe seines Verstecks kommen. Er vergewisserte sich, daß die beiden Lehrer noch hinten vor dem Klassenzimmer im Schatten standen, dann rüttelte er die Büsche. Sie hörte ihn nicht, also rüttelte er heftiger und flüsterte dann so laut, wie er sich traute: »Eh, Tussi! Bise taub?«
    Sie blickte erschrocken auf, und auch als sie ihn erkannte, sah sie immer noch ängstlich drein. Das machte ihn wütend, und einen Moment lang hatte er Lust, einfach abzuhauen und el viejo zu sagen, er hätte sie nicht gefunden. »Komm ’er«, sagte er statt dessen. »Soll dich was fragen, m’entiendes?«
    Das kleine Mädchen drehte sich um und schaute nach den Lehrern, genau wie er es getan hatte. Damit stieg sie ein klein wenig in seiner Achtung: Für ein reiches weißes Mädchen war sie gar nicht so dumm. Sie schlenderte näher an den Zaun heran, aber hielt einen kleinen Abstand, als ob er hindurchlangen und sie packen könnte.
    »Was?« fragte sie. Dann: »Ist Herr Sellars krank?« Sie sah richtig besorgt aus.
    Cho-Cho schnitt ein Gesicht. »Is nich krank. Er will wissen, wieso du nich komms ihn besuchen und gar nix.«
    Sie schaute, als ob sie gleich losheulen wollte. Cho-Cho hätte ihr am liebsten eine geknallt, obwohl er nicht wußte, warum. Wahrscheinlich weil der alte Krüppel sie so gern hatte und Cho-Cho den Laufburschen spielen mußte, um rauszukriegen, wie es ihr ging, wie wenn sie eine Prinzessin wäre oder so.
    »Mein … mein Papi hat mir die MärchenBrille weggenommen. Er sagt, ich darf sie nicht haben.« Ein schriller Schrei in der Nähe ließ sie aufschrecken. Einer ihrer Klassenkameraden hatte sich den Sweater von jemand anders geschnappt und lief damit fort, aber in die entgegengesetzte Richtung, weg vom Zaun, verfolgt von anderen Kindern. »Er will rausfinden, wieso ich … wieso ich sie habe … und ich darf nicht vor die Tür und spielen oder sonstwas, bis ich’s ihm sage.«
    Cho-Cho runzelte die Stirn. »Dann kriegse jetzt Strafe? Weil du nich sags, wo die Brille ’er is?«
    Das kleine Mädchen – er konnte sich ihren Namen nicht merken, auch wenn ihn der alte Mann ständig sagte: Crystal Ball oder was Dämliches in der Art – nickte. Es wunderte Cho-Cho nicht, daß sie den Mund hielt, denn dort, wo er herkam, erzählte niemand den Eltern, was wirklich los war, falls sie überhaupt Eltern hatten, aber er fand es ganz interessant, daß sie nicht sofort umfiel. Ein reiches kleines weißes Mädchen wie die, da hätte er gedacht, die macht nach der ersten Tracht Prügel schlapp, und die mußte sie mittlerweile eigentlich hinter sich haben.
    »Ich sags el viejo«, erklärte er.
    »Will er, daß ich ihn besuchen komme?« fragte sie. »Das geht nicht – ich hab Hausarrest.«
    Cho-Cho zuckte mit den Achseln. Er machte nur seinen Job. Er hatte nicht vor, seine Zeit mit irgendwelchem aufmunternden Gesülze zu verplempern.
     
    »La caridad es veneno«, hatte sein Vater immer gesagt, sein bettelarmer, saublöder Vater – Sozialhilfe ist Gift. »Die macht dich schwach, Junge«, lautete die Erklärung. »Die geben sie uns, wie sie Ratten Gift geben. Wir sind die Ratten in den Wänden, verstehst du? Und sie wollen uns schwach machen, damit sie uns ausrotten können.«
    Carlos senior konnte seiner Familie befehlen, keine Almosen vom Staat oder der Kirche anzunehmen, aber das Problem war, daß er nie eine Stelle behielt. Er arbeitete hart und gebrauchte auch seinen Kopf (einer der Gründe, weswegen man Obst immer noch von menschlichen Arbeitskräften pflücken ließ), und wenn der Mann im Laster ihn als Tagelöhner auf den Zitrusfeldern außerhalb von Tampa angeheuert hatte, freute sich dieser Mann den ganzen Vormittag über seine glückliche Hand, denn Carlos senior stürmte die Reihen hoch und runter und füllte doppelt so viele Orangen- oder Grapefruitbehälter wie die anderen. Doch dann schaute jemand ihn schräg an, oder einer der Vorarbeiter stellte ihm eine Frage, die er als Beleidigung empfand, und wenig später lag jemand mit blutiger Nase am Boden, manchmal Carlos senior, aber meistens der andere. Und das war’s dann. Wieder ein Job zum Teufel, wieder ein Feld, auf dem er sich nicht mehr blicken lassen durfte, solange sie keinen anderen Fahrer, keinen anderen

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