Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
bestimmen, wo die Leute wohnen dürfen. Doch, dann könnten die besten Plätze im ursprünglichen Zustand studiert werden.« Er schien sich das durch den Kopf gehen zu lassen. »Aber vielleicht würde das an sich schon zu Mißbrauch führen – nur das Haus selbst ist vollkommen, die Menschen dagegen sind fehlbar.«
Derart zurechtgewiesen konnte Renie nur den Kopf senken und Factum Quintus die Treppe hinauf folgen, die durch diverse baufällige Konstruktionen an den Wänden und den ausladenden marmornen Geländern stark verengt war. Nur wenige dieser Bruchbuden waren erkennbar bewohnt, aber Renie konnte weiter hinten in dem Verhau Lichter sehen und Stimmen hören. Das Ganze kam ihr wie eine Korallenkolonie vor. Oder, um ein mehr menschliches Bild zu wählen, wie die Shantytowns und Wabensiedlungen von Durban.
Menschen suchen sich einen Platz zum Leben, dachte sie. Mehr gibt’s da nicht zu verstehen.
Die Treppenbehausungen wurden weniger, je höher sie kamen, und als sie schließlich, nach Renies Schätzung, drei oder vier hohe Stockwerke zurückgelegt hatten, war die Treppe völlig unverschandelt. Die jetzt zu Tage tretenden Steinmetzarbeiten waren großartig und hätten aus einer Barockkirche sein können, wobei Renie nur einen Bruchteil des Dargestellten identifizieren konnte – menschliche Gestalten, aber auch weniger vertraute Formen und viele Figuren, deren Vorbilder sie nur vermuten konnte.
»Wer hat das gemacht?« fragte sie.
Factum Quintus freute sich sichtlich über die Frage. »Ah. Ja, doch, ich weiß, daß viele dies für das Werk der Baumeister selber halten, aber das ist ein Ammenmärchen. Das Haus ist voll von solchem Unsinn. Die Treppe ist selbstverständlich alt, vielleicht aus der Zeit des Ersten Geschirrkriegs oder noch älter, aber sie wurde mit Sicherheit in geschichtlicher Zeit geschaffen.« Er deutete auf die Balustrade. »Siehst du? Hier war mal eine Goldschicht drauf. Vor langer Zeit, versteht sich, vor langer, langer Zeit. Sie wurde abgekratzt und zweifellos für Münzen oder Schmuck eingeschmolzen. Aber die früheste Bautätigkeit, von der wir wissen, war lange vor solchen Zierarbeiten. Unendlich viel früher. Die Bauten damals waren ganz aus Stein, aus behauenen Blöcken, mit Mörtel verbunden – faszinierende Sachen …« Und damit war er wieder bei seinem Thema und rasselte Fakten über das Haus herunter, während Renie und die anderen hinter ihm die Stufen hochstapften.
Aus Vormittag wurde Nachmittag. Sie verließen die große Treppe zwar irgendwann, aber erst nachdem sie viel höher gestiegen waren als die paar Stockwerke, von denen Factum Quintus ursprünglich geredet hatte. Renie wurden das Herz und die Füße schwer. Nur !Xabbu mit seinen vier Beinen schien das lange Gehen und Steigen nichts auszumachen.
Florimel machte immer noch den Eindruck einer Frau, die darauf gefaßt war, jeden Augenblick angefallen zu werden, obwohl das Gefühl, das sie und Renie gehabt hatten, weitgehend abgeklungen war. T4b und Emily gingen dicht hinter ihr. Das junge Paar hatte einen großen Teil des Tages in leisem Gespräch verbracht. Emilys anfängliche Abneigung gegen den Jungen schien beträchtlich nachgelassen zu haben, und Renie fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie, um einen altmodischen Ausdruck zu bemühen, »miteinander gingen«, was auch immer das in diesem bizarren Universum, in dieser bizarren Situation bedeuten mochte. Sie stellte fest, daß sie Orlando und Fredericks vermißte, die anderen beiden Teenager, und überlegte, wo sie sein mochten, ob sie überhaupt noch am Leben waren. Es war sehr bedauerlich, daß Orlando mit seiner Krankheit, von der Fredericks erzählt hatte, diese kleine Chance zu einem Techtelmechtel versäumte, denn Emily machte zweifellos den Eindruck, für eine Beziehung reif zu sein.
Das kleine Gesicht und das freche Grinsen ihres Bruders Stephen kamen ihr plötzlich in den Sinn, und sie empfand einen stechenden Schmerz. Sofern nicht eine dramatische Veränderung eintrat, würde Stephen niemals ins Teenageralter kommen. Er würde nie die Freuden und Leiden der Liebe und auch keine der sonstigen bittersüßen Erfahrungen des Erwachsenseins erleben.
Renie fühlte, wie die Tränen kamen und überflossen. Sie wischte sie hastig weg, bevor die anderen es merkten.
»Der Glockenturm der sechs Schweine ist nur noch wenige Stockwerke über uns«, verkündete Factum Quintus. Er hatte die Gruppe auf einer großen runden Empore halten lassen,
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