Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
die Tür schloß, hörte sie ihren Vater sagen: »So, gut. Fang an.«
Er kam nicht heraus.
Eine Stunde verging. Christabels Mutter, die zuerst so getan hatte, als wäre sie böse, wurde jetzt richtig böse. Sie ging zur Arbeitszimmertür und klopfte, aber Papi gab keine Antwort. »Mike?« rief sie und rüttelte an der Tür, aber sie war zugeschlossen. »Christabel, was hat er da drin gemacht?«
Sie schüttelte den Kopf. Sie befürchtete, wenn sie etwas sagte, würde sie so heftig anfangen zu weinen, daß sie nie wieder aufhören konnte. Sie wußte, was passiert war – der gräßliche Junge hatte etwas mit der Brille gemacht. Er hatte Christabels Papi umgebracht. Sie lag auf der Couch, das Gesicht im Kissen vergraben, während ihre Mutter im Wohnzimmer hin und her lief.
»Das ist doch lächerlich«, sagte Mami gerade. Sie ging zur Tür zurück. »Mike! Komm schon, du machst mir angst!« Etwas Furchtbares war in ihrer Stimme, wie ein Riß in einem Stück Papier, der immer größer wurde und gleich am Rand angekommen war. »Mike!«
Jetzt fing Christabel doch zu weinen an, und das Kissen wurde ganz naß. Sie wollte nicht hochschauen. Sie wollte, daß es aufhörte. Es war alles ihre Schuld. Alles ihre Schuld …
»Mike! Mach sofort die Tür auf, oder ich rufe die MPs!« Mami trat jetzt gegen die Tür, laut krachend wie die Schritte eines Riesen, und Christabel weinte noch heftiger. »Bitte, Mike, bitte – o Gott, Mike …!«
Es machte klick. Ihre Mutter hörte zu schreien und zu treten auf. Alles war still.
Christabel setzte sich auf und wischte sich die Augen; Tränen und Schnodder liefen ihr über die Lippe. Papi stand in der offenen Tür des Arbeitszimmers, die Brille in der Hand. Er war weiß wie ein Ei. Er sah aus, als wäre er gerade aus dem Weltraum zurückgekommen, oder aus Monsterland.
»Ich … Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab …« Er sah die Brille an. »Ich hab … was zu erledigen gehabt.«
»Mike, was geht hier vor?« fragte Christabels Mutter. Sie klang noch fast genauso ängstlich.
»Das erzähl ich dir später.« Er schaute sie an, dann Christabel, aber in seinem Gesicht war kein Zorn oder dergleichen. Er rieb sich die Augen.
»Aber was … was ist mit dem Essen?« Mami lachte scharf und schrill. »Das Hühnchen ist bestimmt knochentrocken.«
»Weißt du«, erwiderte er, »ich hab auf einmal gar keinen Hunger mehr.«
Kapitel
In Banditenhand
NETFEED/MODERNES LEBEN:
Treeport verklagt Wigger
(Bild: Treeport beim Besuch einer Kinderklinik)
Off-Stimme: Clementina Treeport, wegen ihrer Arbeit mit russischen Straßenkindern oft »die Heilige von Sankt Petersburg« genannt, hat gegen die PowerWig-Gruppe How Can I Mourn You If You Won’t Stay In Your Hole? Strafanzeige erstattet. Die Gruppe benutzt Treeports Namen und Bild in ihrem Titel »Meat Eats Money, Children Are Cheap«, der Straßenkinder als geeigneten Ersatz für teures Containerzuchtfleisch anpreist. Der Text scheint zu unterstellen, daß Treeport und ihr Hospiz »Goldene Gnade« zu eben diesem Zweck mit Kindern Handel treiben. Treeport hat sich nicht öffentlich dazu geäußert, aber ihre Anwältin hat erklärt, sie sei darüber »mit Sicherheit sehr betroffen«.
(Bild: Cheevak, Soundmaster der HCIMYIYWSIYH?, vor dem laufenden Werbeclip)
Cheevak: »Nee, echt, das ist nix gegen Clemmy. Wir finden das ho-dsang, was sie abzieht. Das ist anerkennend gemeint, irgendwie. Sie ist ihrer Zeit weit voraus, kein Scheiß.«
> Renie knackte an einer harten Nuß, die ihrem Programmiererhirn beharrlich trotzte, auch wenn sie sich noch so sehr damit abplagte.
Wie erzeugt man künstlich Güte?
Nach einer kurzen und unruhigen Nacht und einem zeitigen Frühstück im Refektorium des Klosters waren sie dabei, von den Bibliotheksbrüdern Abschied zu nehmen. Renie wunderte sich ein wenig, daß die Mönche ihnen gegenüber so großzügig waren, und das deutlich nicht nur, weil sie für ihre zufällige Beteiligung an Martines Verschwinden Abbitte leisten wollten. Es erschien ihr ungewöhnlich, daß codierte Wesen einen solchen Eifer an den Tag legten, Fremden Gutes zu tun, und sie fragte sich, wie so etwas zustande kam.
Das ist nicht etwas wie Wut oder so, wo man einfach eine feindselige Reaktion auf jede Abweichung von der normalen Routine einprogrammiert, dachte sie, während sie sich mit einem Händedruck vom Abt verabschiedete. Der neben ihm stehende Bruder Epistulus Tertius schien tatsächlich mit den Tränen zu ringen, obwohl
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