Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
bei ihrer Befreiung von Nutzen sein.
Nach dieser Eröffnung herrschte erst einmal Schweigen, aber es hielt nicht lange an. Factum Quintus erhob sich, und zwar ungefähr so, wie wenn eine Marionette hochgezogen wird. »Ich werde den Glockenturm auskundschaften, dann könnt ihr derweil euer Vorgehen planen«, teilte er mit.
»Du?« fragte Florimel mißtrauisch. »Wieso das?«
»Weil ich der einzige bin, den euer Entführer nicht kennt«, antwortete er. »Doch, ganz gewiß. Ich glaube nicht, daß ich jemals einem der Abstaubenovizen begegnet bin – in den Krypten benötigen wir erfahrenere Hilfskräfte. Undenkbar, daß das junge Gemüse zwischen den Pergamenten herumfuhrwerkt, nicht wahr?« Sein Kopfschütteln verriet, daß es eine schreckliche Vorstellung sein mußte. »Wenn ich also auf diesen … diese Person stoße, die ihr sucht, kann ich damit rechnen, unbehelligt davonzukommen. In der Bibliothek wissen alle, daß Bruder Factum Quintus verrückt nach alten Bauwerken ist. Sie haben natürlich recht.« Er lächelte schief.
Renie war wider Erwarten gerührt. »Sei vorsichtig. Er … er ist klein, aber sehr, sehr gefährlich – ein Mörder. Wir konnten ihn auch mit vereinten Kräften nicht festhalten.«
Der Mönch richtete sich zu seiner vollen dürren Länge auf. »Ich habe nicht vor, mit einem Banditen handgemein zu werden. Diese Hände müssen unverletzt bleiben, damit sie Lackschichten und Holzmaserungen fühlen können.« Er schritt auf den hinteren Ausgang der Empore zu. »Falls ich nicht zurück bin, wenn die Sonne hinter dem Fenster versinkt, dann … tja, dann habe ich vermutlich Pech gehabt.«
»Wart mal!« rief Florimel ihm hinterher. »Du kannst doch nicht einfach …« Aber Factum Quintus war fort.
Auch wenn sie sich nahezu eine Stunde lang verschiedene Szenarien und ihr Verhalten im einen oder anderen Fall ausmalten, wurde die zunehmende Sorge der kleinen Schar dadurch nicht geringer. Je länger der Mönch ausblieb, um so sicherer schien es, daß sie ihn demnächst suchen gehen mußten, und um so mehr hatte Renie das Gefühl, daß es ein schwerer Fehler gewesen war, sich den kriegerischen Aspekt der Sache nicht genauer zu überlegen. Sie hatten keine Waffen und hatten sich auch auf dem Bibliotheksmarkt, wo sich die Gelegenheit geboten hätte, keine besorgt, wobei es Renie allerdings schleierhaft war, wo sie das Geld oder einen entsprechenden Gegenwert hergenommen hätten. Dennoch wäre es dümmer als dumm von ihnen, sich einfach so auf Sweet Williams Mörder zu stürzen, der nichts zu verlieren hatte als seinen Online-Platz, während sie damit rechnen mußten, alles zu verlieren.
Sie hatten gerade beschlossen, von einigen der Möbel, die sie weiter hinten in einem der nahen Korridore erblickt hatten, die Beine abzubrechen, um wenigstens Keulen zu haben, als sie ein Geräusch aus der Richtung hörten, in der Factum Quintus verschwunden war. Das allgemeine Entsetzen legte sich, als gleich darauf der Mönch im Durchgang erschien, doch sein Gesichtsausdruck war merkwürdig.
»Der Glockenturm … es ist in der Tat jemand drin«, begann er.
»Ist Martine dort?« fragte Renie aufgeregt und setzte hastig an, sich zu erheben.
»Steht nicht auf!« Factum Quintus hob beide Hände hoch. »Wirklich, laßt es lieber bleiben.«
Aus Florimels Stimme sprach die gleiche unbestimmte Angst, die auch Renie fühlte. »Was ist los? Was ist aus deiner …«
Der Mönch stürzte abrupt nach vorn und warf sich mit einer grotesken Bewegung zu Boden – unfreiwillig, wie Renie erst erkannte, als hinter ihm die anderen Gestalten hereindrängten. Es waren wenigstens zehn, und Renie meinte, in dem Zimmer dahinter noch mehr zu erblicken. Gekleidet waren sie in eine bunte Mischung aus Mänteln, Fellen und Umhängen, die so schmutzig und lumpig waren, daß die geborgten Sachen von Renies Truppe sich daneben wie Galauniformen ausnahmen. Die meisten waren Männer, aber es befanden sich auch ein paar Frauen darunter, und alle hatten wenigstens eine Waffe und dazu einen unangenehm hämischen Blick.
Der größte Mann, der mit seinem dichten Bart noch mehr wie ein Seeräuber aussah als die anderen, trat vor und bedrohte Florimel, die ihm am nächsten stand, mit einer altertümlichen Schußwaffe, einer Steinschloßpistole, wie es schien. Sein Brustkasten war fast so breit wie eine Tür, und in seinem Mund war kein einziger Zahn zu sehen. »Wer seid ihr?« fragte Florimel den bärtigen Mann kalt.
»Banditen«, stöhnte der am
Weitere Kostenlose Bücher