Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Renie keinen Zweifel hatte, daß er durchaus nicht ungern dablieb. Es ist schon schwer genug, Güte überhaupt zu definieren, gar nicht zu reden davon, sie auf einem Level das über stereotype Phrasen hinausgeht, in ein Verhaltensmuster einzubauen.
Der Abt beugte sich vor und sagte leise zu ihr: »Ihr paßt uns bitte gut auf Bruder Factum Quintus auf, nicht wahr? Er ist sehr gescheit, aber in mancher Hinsicht ein wenig … kindlich. Wir würden uns ewig Vorwürfe machen, wenn ihm etwas zustieße.«
»Wir werden ihn wie einen von uns behandeln, Primoris.«
Der Abt nickte und ließ ihre Hand los. Die anderen sagten ebenfalls Lebewohl, und außer !Xabbu , der sich bemühte, als bloßer Affe zu erscheinen, sah man allen aus Renies Schar eine gewisse Betrübtheit an. Die Güte der Bibliotheksbrüder war eines der wenigen Beispiele echter Herzlichkeit, die sie erlebt hatten, und es kostete sie Überwindung, sich davon zu trennen, auch wenn die Notwendigkeit, Martine zu retten, Vorrang vor allem anderen hatte. Nur der schlaksige Factum Quintus, der still vor sich hinsummend auf und ab marschierte, war mit den Gedanken woanders und sichtlich begierig aufzubrechen.
Echte Herzlichkeit – da liegt das Problem. Wie kann sie echt sein? Diese Figuren sind keine Menschen – sie sind Code. Sie zog die Stirn kraus. Ein neuronales Netz probierte so lange verschiedene Strategien aus, bis es mit einer oder mehreren Erfolg hatte, aber wie konnte man es hinkriegen, daß Güte als erfolgreiche Strategie bewertet wurde? Manchmal wurde Güte mit Verrat belohnt, wie im Fall der falschen Quan Li, die die Gastfreundlichkeit der Brüder schamlos ausgenutzt hatte.
Zum erstenmal verspürte Renie den ehrlichen Wunsch, die inneren Zusammenhänge des Gralsnetzwerks, dieses sogenannten Otherland, zu ergründen. Sie war davon ausgegangen, daß das, was die Bruderschaft mit all ihren Mitteln und Möglichkeiten geschaffen hatte, einfach eine größere und komplexere Version eines normalen Simulationsnetzwerks war – mehr Details, mehr Alternativen, mehr ausgestaltete »Lebensgeschichten« für die hineinversetzten Figuren. Aber allmählich fragte sie sich, ob hier etwas ganz anderes im Entstehen war, das viel weiter ging.
Sagt die Komplexitätstheorie nicht irgend etwas über derartige Systeme? Sie beobachtete, wie goldener Staub durch einen Lichtstrahl trieb, und versuchte sich an ihre lange zurückliegenden Seminare zu erinnern. Daß sie nicht bloß verfallen können wie beim Sick Building Syndrome, sondern daß sie sich auch höher entwickeln und immer komplexer und turbulenter werden können, bis sie plötzlich einen Sprung in einen ganz andern Zustand tun …?
»Renie?« Florimel konnte eine gewisse ungeduldige Schärfe in der Stimme nicht ganz unterdrücken, aber für ihre Verhältnisse war es eine freundliche Anfrage. »Willst du den ganzen Morgen hier stehen und die Bücherregale anstarren?«
»Oh. Stimmt. Gehen wir.«
Sie mußte die Frage fürs erste auf sich beruhen lassen, aber sie nahm sich fest vor, sie nicht zu vergessen.
Der Bibliotheksmarkt, der eine permanente Einrichtung zu sein schien, war im vollen Gange; sie brauchten beinahe eine Stunde, bis sie das schlimmste Gedränge hinter sich hatten. Renie wurde das Gefühl nicht los, daß sie beobachtet wurden, obwohl sie nicht recht glauben konnte, daß sich der Entführer im Quan-Li-Sim so bald schon wieder in ihre Nähe wagen würde, nachdem seine Tarnung jetzt durchschaut war. Dennoch überlief es sie eiskalt, als sie sich vorstellte, daß sie womöglich von einem alles sehenden Auge beschattet wurden. Da Martine nicht da war, hätte sie gern !Xabbu deswegen zu Rate gezogen, aber ihr Freund gab sich weiterhin den Anschein, bloß ein Tier zu sein, und es kam keine Gelegenheit, sich heimlich zu einem Gespräch in einen Seitengang zu schleichen: Obwohl er einen fast ununterbrochenen Monolog über die diversen architektonischen Sehenswürdigkeiten und die beim Bau verwendeten Materialen und Methoden hielt, schlug Factum Quintus ein forsches Tempo an.
Die Gruppe begab sich zum Fluß zurück und folgte ziemlich lange seinem Lauf, der durch arme wie durch wohlhabende Ansiedlungen führte. Aus Minuten wurde eine Stunde, dann zwei und drei, und langsam kamen Renie Zweifel an ihrem Führer. Es war unwahrscheinlich, daß die als Quan Li getarnte Person Martine so weit vom Schauplatz der Entführung fortgetragen hätte.
Factum Quintus hielt den Zug an. »Der Weg muß euch lang
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