Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Sand und intonierte dann rhythmisch:
»Heil dir, Unsichtbarer,
Aidoneus, Sohn des Ältesten, Kronos,
Bruder des Donnerers Zeus,
Heil!
Heil dir, Gott der dunklen Säulen,
Hades, Herrscher der Unterwelt,
König im Reiche des Schweigens,
Heil!
Nimm dieses Fleisch, Gott der trächtigen Tiefe,
Nimm dieses Opfer.
Erhöre mein Flehen …«
Er hielt inne. Er hatte den Gott des Todes angerufen, was an diesem Ort bestimmt so wirksam war wie die Szenerie eines Friedhofs oder die Anwesenheit eines sterbenden eiszeitlichen Kindes.
»Schick mir die Vogelfrau!« schrie er und schlug dazu weiter im Takt auf den Sand. »Sage ihr, ich will sie sprechen! Ich will, daß diese Penelope sie sieht!« Die Worte klangen plump, unpassend neben der dichterischen Diktion der Beschwörung, und er rief sich die Worte der Traumfrau ins Gedächtnis. »Komm zu uns! Du mußt zu uns kommen!«
Stille trat ein. Nichts geschah.
Wütend begann Paul abermals, auf den Sand einzutrommeln. »Komm zu uns!«
»He-Herr«, stotterte Eurykleia, »ich dachte, du wolltest die Hilfe der Raterin Athene erflehen, die deiner Sippe schon lange freundlich gesonnen ist, oder des großen Zeus. Ich dachte, du wolltest vielleicht sogar den Meeresgott Poseidon um Vergebung bitten, von dem viele sagen, du habest ihn mit irgend etwas gekränkt, und deshalb habe er dich auf deiner Heimfahrt zu vernichten gesucht. Aber dies, Herr, dies …«
Sein letzter Schlag auf den Boden schwang noch nach, ein lautloses Echo, das er dennoch hinab in die Tiefe pulsen fühlte. Die hellen Flammen schienen jetzt langsamer zu flackern, als müßte ihr Licht durch tiefes Wasser dringen oder erreichte ihn durch eine verzögerte und nachlassende Übertragung.
»Was hast du?« Seine Ungeduld wurde von einem pochenden Magendrücken gedämpft – die Furcht der Dienerin war groß und echt. Ihre Herrin Penelope schien jenseits von Angst und Schrecken zu sein, denn ihre Züge waren schlaff und reglos bis auf die Augen, die fiebrig aus ihrem leichenblassen Gesicht blickten. »Was willst du mir sagen, Alte?«
»Herr, du solltest keine Gebete um … solche Sachen an … an den Unterirdischen richten!« Eurykleia rang mühsam nach Luft. »Haben dir die Jahre … in fremden Ländern den … das Gedächtnis geraubt?«
»Wieso denn nicht? Hades ist ein Gott, oder etwa nicht? Die Leute beten zu ihm, nicht wahr?« Zum Druck in seinem Magen kam noch ein würgender Brechreiz hinzu.
Die alte Dienerin schlug in die Hände, doch sie schien die Sprache verloren zu haben. Die Erde unter Pauls Füßen wirkte straff wie ein Trommelfell, eine atmende Membran, die in einem langsamen, fernen Rhythmus schwang. Doch das Schwingen wurde stärker.
Es ist kein Fehler, ich weiß, daß es kein Fehler ist … oder?
Noch während er die Klauen des Zweifels zufassen fühlte, war sie da.
Ihr Ebenbild Penelope sprang auf und taumelte auf dem mit einemmal abgründig gewordenen Sandboden zurück, denn der Umriß der Vogelfrau bildete sich aus dem Rauch heraus, eine Engelsgestalt in einem einheitlichen luftigen Grauton, deren große Flügel hinter ihr zu zerfließen schienen. Das Gesicht der Erscheinung war eigenartig formlos, ähnlich der vom Regen abgescheuerten Statue des Unterweltsgottes in seiner Nische auf der anderen Seite der Insel. Aber nach dem ungläubigen Entsetzen auf ihrem Gesicht zu urteilen, erkannte Penelope dennoch ihr eigenes Abbild, selbst in dieser körperlosen Form.
Das Rauchgesicht wandte sich ihm zu. »Paul Jonas, was hast du getan?«
Er wußte nicht, was er sagen sollte. Alles, was er geplant hatte, alles, womit er gerechnet hatte, löste sich in nichts auf. Die Erdoberfläche schien nur noch eine dünne Haut über einem ungeheuer tiefen Schlund zu sein, und etwas bewegte sich dort unten, etwas Riesengroßes, vor dem es, Reue hin oder her, kein Entrinnen gab.
Der Engel zitterte, und die Rauchwolke wallte. Selbst in dieser schemenhaften Form konnte er deutlich die Züge der Vogelfrau aus dem Schloß des Riesen erkennen, und ungeachtet seines Schreckens verzehrte er sich nach ihr. »Du hast den Einen, der Anders ist, gerufen«, sagte sie. »Er sucht jetzt nach dir.«
»Was meinst du damit?«
»Du hast ihn angerufen. Den Einen, der dies alles träumt. Warum hast du das getan? Er ist schrecklich!«
Trotz seiner inneren Wirrnis nahm Paul schließlich wahr, daß Penelope schon seit einer ganzen Weile vor Grauen stöhnte und jammerte. Sie war hingefallen und warf sich Sand auf den Kopf,
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