Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Bruders war.
Als sie sich bückte und die Hand ergriff, merkte sie, wie diese sich langsam, verschlafen in ihren Fingern bewegte, und erkannte überglücklich, daß er noch lebte. Sie zog.
Stephen kam Stück für Stück aus dem zähen Grund hervor – erst die ganze Hand mit dem Handgelenk, dann der übrige Arm, wie die Wurzel einer unnachgiebigen Pflanze. Schließlich brachen Schulter und Kopf durch die aufplatzende Erdoberfläche. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen zusammengepreßt und zu einem verschwörerischen Lächeln verzogen. Hektisch, um ihn nur ja rasch freizubekommen, verstärkte sie ihre Anstrengungen und zog auch seinen Rumpf und seine Beine heraus, aber irgendwie hielt sein zweiter Arm, der noch nicht zu sehen war, ihn weiter in der Erde fest.
Sie zerrte und zerrte, aber das letzte Stück von ihm wollte einfach nicht ans Licht kommen. Sie stellte sich breitbeinig hin, bückte sich tief und legte noch mehr Kraft in das Ziehen. Auf einmal kam Stephens Arm mit einem Ruck aus dem Boden hervor, blieb aber dennoch verankert. Mit der Hand hielt er eine andere kleine Hand umklammert, deren Besitzer noch in der Erde steckte.
Obwohl ihr immer klarer wurde, daß irgend etwas nicht stimmte, zog Renie verzweifelt weiter, um Stephen loszumachen, aber jetzt entstieg eine Kette kleiner schmutziger Gestalten der Tiefe, ähnlich den Plastiksteckperlen, mit denen sie als Kind gespielt hatte, eine Unmenge kleiner Kinder, die sich alle an den Händen hielten und von denen das letzte immer noch verwurzelt war.
Renie sah nicht sehr deutlich – der Himmel verdunkelte sich, oder sie hatte Schmutz in die Augen bekommen. Sie unternahm eine letzte Anstrengung, zog so kräftig, wie sie es überhaupt vermochte, so daß sie einen Augenblick lang Angst hatte, sie würde sich selbst die Arme aus den Gelenken reißen. Das letzte der Kinder löste sich aus der Erde. Doch die Hand dieses Kindes wurde abermals von einer Hand gehalten, nur daß diese letzte kindliche Faust so groß wie ein kleines Auto war und das Handgelenk aus dem Boden ragte wie ein mächtiger Baumstamm. Die ganze Erde bebte, als dieses letzte ungeheuerliche Glied der Kette, vielleicht erzürnt von Renies hartnäckigem Ziehen, sich schwerfällig aus dem dunklen, kalten Grund nach oben ans Tageslicht zu wühlen begann.
»Stephen!« schrie sie. »Laß los, Junge! Du mußt loslassen …!«
Doch seine Augen blieben fest geschlossen, und er hielt weiter die Kette der anderen Kinder fest, auch als die Erde sich aufwölbte und die riesige Gestalt darunter unaufhaltsam emporkam …
Keuchend und zitternd fuhr Renie in die Höhe und stellte fest, daß sie sich nach wie vor in dem dünnen, unveränderlichen Licht der unfertigen Simwelt befand, umgeben von den schlafenden Gestalten ihrer Gefährten – !Xabbu , Florimel, Emily 22813 aus der zerfallenden Oz-Sim-welt und der stacheligen Silhouette von T4b, der langgestreckt am Boden lag wie eine abgebrochene Kühlerfigur. Von Renies Bewegung wurde !Xabbu wach; seine Augen, aufmerksam und klug, klappten auf. Wie immer war es erstaunlich, diesen Blick in dem fast schon komischen Paviangesicht zu sehen. Als er sich aus seiner zusammengerollten Lage an ihrer Seite aufrichten wollte, schüttelte sie den Kopf.
»Schon gut. Ich hab bloß schlecht geträumt. Schlaf weiter.«
Er sah sie zweifelnd an, weil der rauhe Ton ihrer Stimme ihn mißtrauisch machte, aber schließlich legte er sich mit einem geschmeidigen äffischen Achselzucken wieder hin. Renie atmete tief durch, dann stand sie auf und spazierte über den Hang zu der Stelle, wo Martine saß, das blinde Gesicht himmelwärts gerichtet wie eine Satellitenschüssel.
»Hast du Lust, ein bißchen zu schlafen, Martine?« fragte Renie und setzte sich. »Ich denke, ich werde eine Weile wach sein.« Das völlige Fehlen von Wind und Umweltgeräuschen in dem Environment erweckte ständig den Eindruck eines unmittelbar bevorstehenden Gewitters, aber sie hatten mittlerweile, soweit sie das sagen konnten, schon mehrere Tage ohne jedes Wetter an dem Ort verbracht, von einem Gewitter ganz zu schweigen.
Martine drehte sich zu ihr um. »Ist was mit dir?«
Es war seltsam: Renie konnte noch so oft das ausdruckslose Simgesicht ihrer Gefährtin angucken, wenn sie sich abwandte, konnte sie sich kaum mehr daran erinnern. Es hatte in Temilún jede Menge ähnlich aussehender Sims gegeben, deren Gesichter dennoch lebendig und individuell gewirkt hatten – Florimel hatte so eines, und
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