Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
kleineren mit Toilettensachen stand ein schmales Köfferchen ungefähr von der Größe eines altmodischen Bilderbuches für Kinder. Darin befand sich eine Dao-Ming-Reisestation der Spitzenklasse, die es ihr erlaube, wie der junge Mann im Laden mit leicht herablassender Miene ihr versichert hatte, alles zu machen, worauf sie überhaupt kommen könne. Es hatte eine Weile gedauert, bis er sich bequemte, den Apparat zu holen – er war sichtlich der Meinung, sie könne damit nicht mehr im Sinn haben, als im Urlaub ein paar Verwandte anzurufen oder vielleicht die Reiseerinnerungen einer alten Frau niederzuschreiben –, aber irgendwann half das Geld seiner Aufmerksamkeit auf die Sprünge. Sie war entschieden, aber zurückhaltend gewesen, obwohl sie sich ein höfliches Lächeln gestattet hatte, als er ihr erklärte, Dao-Ming bedeute »Leuchtender Weg«, als ob das ihre Kaufentscheidung beeinflussen könnte. Eigentlich war aus den Stimmen nicht schlau zu werden, und sie wußte selbst nicht, warum sie meinte, so eine leistungsstarke Station haben zu müssen, aber sie hatte einen Punkt erreicht, wo ein gewisser Glaube wichtiger war als alle sonstigen Erwägungen.
Mit dem gleich mitgekauften Knopf des Telematiksteckers, den sie bereits im Hals angebracht hatte, fühlte sie sich endlich beruhigt: Die Kinder konnten mit ihr reden, wann sie wollten. Jetzt war der Kanal immer offen, und jede Nacht überließ Olga ihnen das Feld ihrer Träume. Sie hatten ihr viel erzählt, manches, woran sie sich im Wachen erinnerte, anderes, das verblaßte, aber stets flüsterten sie ihr zu, sie solle nach Süden fahren, den Turm finden.
Sie wollte darauf vertrauen, daß sie ihr unterwegs halfen.
Draußen ertönte eine Hupe. Olga blickte überrascht auf und fragte sich, wie lange sie so in Gedanken versunken gewesen war. Das mußte das Taxi sein, das sie zum Bahnhof von Juniper Bay bringen sollte, der ersten Station einer Reise, deren letztliches Ziel sie sowenig ahnen konnte wie ihre Länge.
Der Fahrer stieg erst aus, um ihr zu helfen, als sie das Gepäck schon bis zum Bürgersteig geschleift hatte. Während er die zwei Reisetaschen in den Kofferraum warf, ging sie zurück, um nachzusehen, ob sie die Tür abgeschlossen hatte, obwohl sie stark bezweifelte, daß sie jemals zurückkehren würde. Als sie auf den Rücksitz stieg und dem Mann noch einmal sagte, wo sie hinwollte, knurrte dieser und fuhr kommentarlos an. Olga drehte sich um und sah ihr Haus immer kleiner werden, bis ein Baum ihr die Sicht nahm.
Ein Auto kam ihnen langsam entgegen. Im Vorbeifahren wurde Olga auf den Fahrer aufmerksam. Der durch die Windschutzscheibe fallende Schein einer Straßenlaterne erhellte kurz sein irgendwie bekannt wirkendes Gesicht. Er blickte starr geradeaus, und sie brauchte einen Moment, bis ihr Gedächtnis schaltete.
Catur Ramsey. Wenigstens hatte der Mann im Profil genauso ausgesehen. Aber nachdem sie ihm erklärt hatte, sie wolle nicht mit ihm reden, nach den vielen Mitteilungen, die er hinterlassen und auf die sie nicht reagiert hatte, würde er doch bestimmt nicht den ganzen weiten Weg hochgefahren kommen – oder doch?
Sie zögerte und überlegte, ob sie nicht vielleicht umkehren und wenigstens mit dem Mann reden sollte. Er war freundlich gewesen, und wenn er es wirklich war, dann war es mehr als gemein, einfach wegzufahren und ihn an die Tür eines leeren Hauses klopfen zu lassen. Aber was sollte sie sagen? Wie sollte sie es erklären? Es ging nicht. Und vielleicht hatte sie sich ja ohnehin in dem Gesicht geirrt.
Olga sagte nichts. Das Taxi erreichte das Ende der Straße und bog ab, und ihr Haus und der Mann, der vielleicht Catur Ramsey war und vielleicht auch nicht, blieben zurück. Obwohl sie in die ungreifbare Sicherheit der Stimmen und des Planes, den sie mit ihr verfolgten, gehüllt war, konnte Olga Pirofsky sich des Gefühls nicht erwehren, daß soeben etwas Schwerwiegendes geschehen war, ein Verpuffen überpersönlicher Kräfte, das viel mehr bedeutete, als sie fassen konnte.
Sie schüttelte die verstörende Vorstellung ab, ließ sich in den Sitz zurücksinken und mummelte sich in ihren Mantel ein. Alles erledigt. Entscheidung gefällt, kein Zurück mehr. Ohne es recht gewahr zu werden, fing sie leise zu singen an, während draußen die Straßenlaternen an den Fenstern vorbeiblinkten.
»… Ein Engel hat mich angerührt … ein Engel hat mich angerührt …«
Sie hatte das noch nie zuvor gesungen. Und gefragt hätte sie nicht sagen
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