Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
eingetauchter Frosch oder die aktiven Schichten des Netzes durchstreifte, die Stimmen sprachen dennoch nicht zu ihr. Einerlei, was sie tat, die Kinder kamen nicht wieder, als wären sie zu einer anderen, interessanteren Spielgefährtin weitergezogen. Dieses Ausbleiben ängstigte und betrübte Olga. Sie schaute sogar wieder bei Onkel Jingle rein, zwar mit der Befürchtung, dadurch einen neuen Anfall der mörderischen Kopfschmerzen zu provozieren, aber stärker noch von der Angst gepackt, sie hätte womöglich ihr ganzes Leben wegen irgendeiner Halluzination weggeworfen. Es war seltsam, die clownesken Kunststücke und Lieder des Onkels aus ihrer neuen Distanz zu verfolgen, ihn beinahe als unheimliche Figur wahrzunehmen, einen weißgesichtigen Rattenfänger, doch obwohl ihr die Sendung nur noch einmal klarmachte, wie unwahrscheinlich es war, daß sie jemals dahin zurückkehren konnte, geschah sonst nichts. Kein Schmerz im Schädel wie ein schartiges Messer, aber auch keine Kinder – wenigstens keine, die nicht zu Onkel Jingles kreischender Dschungeltruppe gehörten.
Jeden Abend hatte sie sich an das System angeschlossen und war mit einem zusammengerollten Mischa im Schoß dort geblieben, bis die Müdigkeit sie ins Bett trieb. Jeden Morgen wachte sie aus wilden, aber sofort vergessenen Träumen auf und setzte sich wieder in den Stuhl. Erst am Ende der ersten Woche ihres neuen Lebens trat endlich eine Veränderung ein.
In der Nacht war Olga mit ihrem eingesteckten Glasfaserkabel eingeschlafen.
Aus dem grauen Nichts der ersten Ebene in den Schlaf zu gleiten, geschah so sanft und unmerklich wie der Eintritt der Abenddämmerung, doch statt in den verworrenen Karneval des befreiten Unterbewußten einzutauchen, schwebte sie durch den stillen, leeren Raum, schwamm in einem kalten, öden Vakuum wie ein dunkler, kleiner Mond. Es fiel ihr auf, daß ihre Gedanken für einen Traum viel zu klar und gesammelt waren. Dann fingen die Visionen an.
Zunächst sah sie wenig, nur einen Schatten in der allgemeinen Finsternis, doch nach und nach wurde daraus ein Berg, unfaßbar hoch, schwarz wie die Nacht, die ihn umgab, steil gegen die Sterne stoßend. Sie erschrak davor, aber konnte nichts gegen seine lichtlose Strahlung ausrichten, die sie durch die eisige Dunkelheit hinweg anzog wie die Flamme den Falter. Doch als der Berg immer höher vor ihr aufragte, fühlte sie plötzlich, wie die Kinder sich als unsichtbare Herde um sie scharten. Die tiefe, lebensfeindliche Kälte ließ nach, und dennoch wußte sie irgendwie, daß die Minustemperaturen nur vorübergehend zurückgehalten wurden.
Plötzlich, mit der Flüssigkeit eines normaleren Traumübergangs, war der Berg kein Berg mehr, sondern eine schlankere Form, ein Turm aus glattem schwarzen Glas. Das Morgengrauen oder ein anderes kühles Licht bestrich den Himmel und schob die Nacht zurück, und sie erkannte, daß der Turm sich aus dem Wasser erhob wie eine Burg mit einem Ringgraben, wie ein Schloß aus den Märchen, die ihre Mutter ihr vor langer Zeit erzählt hatte.
Die Kinder sagten nichts, aber sie fühlte, wie sie sich von allen Seiten an sie drängten, ängstlich, aber auch hoffnungsvoll. Sie wollten, daß sie verstand.
Das letzte, was sie vor dem Aufwachen gesehen hatte, war ein Funke der aufgehenden Sonne, eine Feuerlinie auf der glatten Obsidianfläche des Turmes. Doch in den letzten Augenblicken hatte sie auch die Stimmen der Kinder wieder gehört, und sie hatten ihr Herz erquickt wie der Wind in den Zweigen nach einem drückend heißen Nachmittag.
Nach Süden, hatten sie ihr zugeflüstert. Fahr nach Süden.
Olga überblickte ihr Gepäck. Die Schultern taten ihr weh, und ihr Rücken war ganz steif vom vielen Bücken, aber ihre feuchte Bluse und die im Nacken klebenden Haare waren ein erfreuliches Indiz für das, was sie geleistet hatte; selbst die Schmerzen bewiesen, daß sie endlich tätig wurde.
Es war eigenartig, wie wenig sie brauchte, nachdem sie so viele Jahre mit Dingen gelebt hatte. Es war, als ginge sie wieder mit ihrer Familie auf Fahrt, und mit Aleksander, und nur die wichtigen Dinge kämen mit, weil überflüssiger Plunder auf der Straße nicht zu gebrauchen war. Jetzt war sie im Begriff, Jahrzehnte ihres Lebens hinter sich zu lassen, und nahm nur zwei Gepäckstücke mit. Gut, drei.
Der Stuhl war natürlich an Obolos zurückgegangen, aber Olga hatte sich im Laufe der Jahre einiges zusammengespart: Neben der großen Reisetasche mit Kleidungsstücken und der
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