Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
äußerlich kaum anzumerken. Sie hatte weiter Angelegenheiten geregelt, Post abgeschickt, betroffene Stellen benachrichtigt und sich im ganzen mit der langsamen Vorsicht eines schwer angeschlagenen Menschen durchs Leben bewegt. Nur einmal hatte Olga noch geweint, nämlich als die Leute kamen, die Mischa abholen wollten.
Es handelte sich um ein kinderloses Ehepaar, beide in irgendwelchen leitenden Stellungen, für Olgas Verhältnisse ziemlich jung, aber schon mit allen Anzeichen ihrer späteren Gesetztheit als Fünfzigjährige. Sie hatte sie aus drei oder vier Anfragen ausgewählt, weil der Mann sie mit seinem freundlichen Ton in der Stimme auf unerklärliche Weise an ihren verlorenen Aleksander erinnert hatte.
Auf die schlichte Auskunft hin, sie ziehe um, hatten sie den Anstand besessen, nicht noch allzuviele Fragen zu stellen, und obwohl Mischa argwöhnisch wie immer gewesen war, hatten sie den Eindruck gemacht, großen Gefallen an dem kleinen Hund zu finden.
»Ach, wie thik-he!« sagte die Frau, ein Ausdruck, den Olga nicht kannte, aber der süß zu bedeuten schien. »Sieh doch nur die Ohren! Wir werden ihm ein gutes Zuhause geben.«
Als sie ihn in den Hundekorb verfrachteten, waren Mischa über Olgas Verrat fast die Augen herausgefallen, und er war gegen die verriegelte Klappe gesprungen, bis sie Angst bekommen hatte, er könne sich verletzen. Seine neuen Besitzer versicherten ihr, er würde bald wieder fröhlich werden, wenn er in seinem neuen Haus aus seinem gewohnten Napf fraß. Mischas scharfes Bellen wurde erst durch das Zusaugen der luftdichten Wagentür abgeschnitten. Als das blitzblanke Fahrzeug um die Ecke gebogen war, hatte Olga schließlich gemerkt, daß ihr Tränen übers Gesicht liefen.
Sie strich gerade den Druckstreifen am letzten Umzugskarton fest, als ein Quietschen von draußen sie ans Mansardenfenster holte. Ein Stück weiter weg drehte ein kompaktes Aeromobil unter einer der grellweißen Straßenlaternen schwindelerregend enge Kreise auf der Straße. Es war vollgepackt mit Teenagern, und die Mädchen auf dem Rücksitz kreischten und lachten. Ein Junge kam aus einem nahen Haus gelaufen und quetschte sich dazu, was weiteres Gelächter auslöste. Bevor es sich ausbalanciert hatte, strich das Aeromobil noch nach einer zu steil gekommenen Kurve über ein Blumenbeet. Als es beschleunigte und davonglitt, spritzte kurz ein buntes Ensemble geköpfter Blüten unter den Schürzen hervor in den Rinnstein.
Bloß wieder ein Freitagabend am Ende der Welt, ging es Olga durch den Kopf, aber sie wußte nicht genau, was sie damit meinte, wo sie die Worte herhatte. Es war Wochen her, daß sie zuletzt die Nachrichten verfolgt hatte, aber sie glaubte nicht, daß es auf der Welt viel schlimmer zuging als gewöhnlich – Krieg und Mord, Hunger und Seuchen, aber nichts Außergewöhnliches oder Apokalyptisches. Ihr eigenes Leben veränderte sich, verlor sich vielleicht sogar in irgendeiner unbegreiflichen Dunkelheit, aber alles andere würde doch bestimmt weitergehen wie gehabt, oder? Kinder würden groß werden, Teenager herumrüpeln und die Generationen eine nach der anderen weiter voranschreiten – war das nicht der Sinn von allem, was sie im Leben getan hatte? War es nicht der Sinn dessen, was sie jetzt tat, der einzige Sinn? Auf die Kinder kam es an. Ohne sie war das Erdenleben eine langweilige Witznummer, über die niemand lachte.
Sie schob den Gedanken beiseite, so wie sie sich bemüht hatte, die Verzweiflung im Bellen des kleinen Mischa nicht zu hören. Es war besser, empfindungslos zu sein. Wenn ihr eine große Aufgabe gestellt worden war, konnte sie es sich nicht leisten, Schmerz zu empfinden. Es würde noch viel mehr auf sie zukommen, aber sie würde sich zusammenreißen und durchhalten. Das war eine Sache, die das Leben ihr beigebracht hatte, eine Sache, die Olga gut konnte.
Sie schob den letzten Karton an seinen Platz, womit fast ihre gesamte weltliche Habe verstaut war wie der für das Jenseits aufbewahrte Reichtum eines toten Pharaos – und, dachte sie, mit etwa genausogroßen Chancen, noch einmal vom Besitzer benutzt zu werden. Dann zog sie die Tür zu und schloß sie ab.
Eine Zeitlang hatten die Stimmen geschwiegen.
In den ersten Tagen nach ihrer Kündigung hatte Olga jeden Tag die meiste Zeit mit eingestecktem Kabel im Stationsstuhl verbracht und auf Weisungen gewartet. Aber ob sie nun auf der untersten Ebene ihres Systems im grauen Licht badete wie ein halb in einen Lilienteich
Weitere Kostenlose Bücher