Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gelesen hatte, ohne ihr jedoch einen größeren praktischen Wert beizumessen als der Mumifizierung oder der Alchimie. Jetzt war er außerordentlich dankbar, einen Reisegefährten zu haben, der sich mit solchen antiquierten Sachen auskannte.
»Kommen wir bald nach Troja?« fragte er, als der Mond hinter den Wolken verschwand und Meer und Himmel sich verdunkelten. Bei dem Rauschen und Murmeln der See und der weiten Sternenlosen Leere um ihn herum fühlte er sich wie im Innern einer riesigen Muschel.
»Keine Ahnung.« Azador saß hinten im Floß, eine Hand leicht auf der Ruderpinne, so seelenruhig über den Wellen thronend, als ob er bei sich zuhause auf einer Matte säße. »Hängt von vielen Dingen ab.«
Paul nickte, als verstünde er, aber nur um sich die mittlerweile bekannte – und im allgemeinen fruchtlose – Mühe zu sparen, aus Azador eine Erklärung herausholen zu wollen. Vom Wetter, vermutete er, und der Genauigkeit der Navigation.
Irgendwann nach Mitternacht band Azador das Ruder fest, um eine Runde zu schlafen. Der Mond war inzwischen untergegangen, und am schwarzen Himmel leuchteten die Sterne. Paul beobachtete, wie sie über seinem Kopf ihren langsamen Kreistanz aufführten und dabei so nahe erschienen, daß er meinte, sie berühren und sich an ihrem kalten Licht die Finger erfrieren zu können. Er schwor sich, falls er jemals nach Hause gelangte, wollte er die Gestirne nie wieder für eine Selbstverständlichkeit halten.
Am späten Vormittag ihres dritten Tages nach der Abfahrt von Polyphems Insel erblickten sie wieder Land. Kurz nach Sonnenaufgang war abermals eine Bö über sie hinweggegangen und hatte sie gezwungen, das Segel vorübergehend einzuholen, und seitdem hatten sie rauhen Wellengang. Azador zerrte gerade an den Schoten, um das Segel gut prall zu bekommen. Paul kniete vorne im Floß und hielt ebenfalls eines der Seile, aber kämpfte vor allem mit seiner Übelkeit, als er am Horizont etwas Dunkles sah.
»Schau!« rief er. »Ich glaube, da ist wieder eine Insel!«
Azador kniff die Augen zusammen. Scharf wie ein Messer schnitt plötzlich ein Sonnenstrahl durch die jagenden Wolken und ließ die fernen grünen Hügel über das dunkle Wasser leuchten.
»Ja, eine Insel«, pflichtete Azador bei. »Sieh nur, sie zwinkert uns zu wie eine schöne Hure.«
Paul fand den Vergleich ein wenig grob, aber er freute sich so, sie gesichtet zu haben, daß ihm das gleichgültig war. Er war jetzt, wo das Floß wieder seetüchtig war und er einen starken und fähigen Begleiter hatte, viel weniger traurig und ängstlich als vorher, aber dennoch wurde ihm die Eintönigkeit des Homerischen Meeres langsam ein bißchen zuviel – etwas trockenes Land wäre eine nette Abwechslung. Vielleicht gab es dort Beeren, dachte er, und sogar Brot und Käse, falls am Fuß der fernen grünen Hänge ein Dorf oder eine Stadt lag, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Es war merkwürdig, daß er selten Hunger hatte, aber dennoch das Verlangen nach Nahrung sehr stark empfinden und sich Geschmäcke und Kaugefühle sehr lebhaft und lustvoll vorstellen konnte. Zweifellos verursacht dadurch, daß sein Körper von Apparaten am Leben erhalten wurde, die ihn wahrscheinlich über Tropfe und Schläuche mit Nährstoffen versorgten. Aber er freute sich auf den Tag, an dem er nicht nur wieder in seinem heimischen England, sondern auch in seinem wirklichen Körper sein würde. Wie den gestirnten Himmel wollte er auch das nie wieder für eine Selbstverständlichkeit halten.
Als der Tag den Mittagspunkt überschritten hatte und sie in die Nähe der Insel gekommen waren, verzogen sich die Wolken; es wehte zwar noch eine milde Brise, doch die Sonne erwärmte rasch Himmel und Meer, und Pauls Stimmung wurde immer optimistischer. Auch Azador schien sich ein wenig von dem Gefühl anstecken zu lassen. Einmal, bei einem kurzen Umdrehen, sah Paul ihn beinahe lächeln.
Die vor ihnen größer werdende Insel wölbte sich in der Mitte zu einer Gruppe steiler, grasbewachsener Hügel auf, die in der Sonne wie grüner Samt glänzten. Davor kam am Ufer eine Meile oder mehr weißer Sand, reizvoll verdoppelt in den Matten weißer Blumen, die dick wie Schnee viele der Hänge bedeckten. Flüsse und Bäche glitzerten in den Wiesen oder ergossen sich von den Felsen der höchsten Hügel in Wasserfällen, die weitere weiße Flecken bildeten. Paul sah keine menschlichen Bewohner, aber meinte, auf einigen der niedrigeren Hügel regelmäßige Formen zu
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