Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
dem Tod ihres Herrn über den ganzen Berg verstreut hatten. Paul erinnerte der Bratengeruch etwas zu sehr an das Geschehen, das sie gerade überlebt hatten, aber Azador speiste mit gutem Appetit. Als er schließlich sein Mahl beendete, wirkte er einigermaßen wiederhergestellt und gratulierte Paul sogar knurrend zu seiner raschen Reaktion.
»Das war gut, das mit dem Feuer«, sagte er. »Wie eine Fackel hat der Mistkerl gebrannt – wusch!« Azador wackelte mit den Fingern, um Flammen anzudeuten. »Und jetzt essen wir sein Fleisch.«
»Bitte nicht«, sagte Paul, dem von der Wortwahl allein schon übel wurde.
Das Floß war zu groß, als daß sie es zum Wasser hätten tragen können, deshalb zerlegten sie es widerwillig in ein halbes Dutzend kleinerer Stücke, wobei sie alle Taue zur späteren Verwendung sorgfältig aufhoben, und schleiften diese aus der Höhle zum Strand hinunter, um sie dort wieder zusammenzubauen.
»Saumäßig stark war der Kerl, das muß man ihm lassen«, knurrte Azador, als sie mit einer Anzahl vertäuter Stämme den Berg hinunterstapften. »Wie er das Ding einfach so über dem Kopf getragen hat – als ich es über den Bäumen ankommen sah, dachte ich erst, es wäre die heilige Schwarze Kali.«
Paul stolperte über eine Wurzel und hätte beinahe sein Ende losgelassen. »Die heilige was?«
»Die heilige Kali. Sie wird von meinem Volk verehrt. Wir tragen sie jedes Jahr in ihrem Boot zum Meer.« Er sah, daß Paul ihn erstaunt anstarrte. »Eine Statue. Am Tag der Heiligen wird sie zum Wasser getragen. Sie wird auch die Schwarze Sara genannt.«
Paul hatte sich nicht über die Absonderlichkeit des Rituals gewundert, sondern darüber, daß Azador etwas von sich selbst preisgab. »Sie ist …« Er stockte. »Zu welchem Volk gehörst du denn?«
Azador zog eine Augenbraue hoch. »Zu den Roma.«
»Zigeuner?«
»Wenn du willst.« Azador hingegen schien es nicht zu wollen, denn er hüllte sich den restlichen Weg zum Strand über in Schweigen.
Sie konnten die Werkzeuge des Riesen benutzen, auch wenn diese für sie schwer und unhandlich waren. Besonders nützlich war ein Bronzemesser mit Wellenschliff, lang wie ein Schwert, aber doppelt so breit, zum Sägen von Ästen gut geeignet. Gebremst nur von einem gelegentlichen Regenschauer und ihren schmerzenden Muskeln schafften es die beiden Männer im Lauf von zwei Tagen, das Floß wieder zusammenzubauen und aus dem biegsamen Stamm eines jungen Baumes einen neuen Mast zu fertigen, aber die Arbeit war viel mühsamer als bei Pauls erstem Bootsbauprojekt. Mehr als einmal wünschte er, Kalypsos magische Axt hätte den Angriff der furchtbaren Skylla überstanden.
Am Abend des zweiten Tages feierten sie ihre für den Morgen geplante Abfahrt von der Insel des Polyphem mit einem üppigen Schmaus.
Außer dem unglücklichen Tier, dessen Keule gerade an einem Spieß über den Flammen brutzelte, suchte Azador noch mehrere von den fettesten Schafen des Riesen aus, um sie mit auf das Floß zu nehmen. Der Gedanke an einen Frischfleischvorrat hob seine Stimmung sichtlich. Während ihr Feuer hoch in die Luft schlug und die Funken über die Wipfel hinaus sprühten, tanzte er und sang dazu ein Lied, dessen Text die Programme des Netzwerks nicht übersetzen wollten oder konnten. Die Grimassen, die der Zigeuner bei einigen der schwierigeren Schritte schnitt, die grimmig konzentrierte und dabei doch eigentümlich freudige Miene weckten in Paul sogar eine gewisse Sympathie für den Mann.
Auch wenn das Hammelfleisch und der letzte Krug vom sauren, aber starken Wein des Zyklopen Azador in eine gehobene Stimmung versetzten, hatte das doch keine lockernde Wirkung auf seine Zunge. Als er fertig getanzt und gegessen hatte, rollte er sich ohne weitere Worte auf die Seite und schlief ein.
Nachdem sie am nächsten Tag in See gestochen waren, wehte die ganze Zeit über ein steifer Wind und gingen die Wellen hoch, und ihr restauriertes Floß ging hingebungsvoll mit wie mit einem neuen, glühenden Liebhaber. Zermürbt von dem ständigen Auf und Ab kauerte Paul den Großteil des Tages an Deck, die Arme um den Mast geschlungen, und fragte sich, wie eine virtuelle Erfahrung seinem Innenohr derart zusetzen konnte. Gegen Sonnenuntergang legte sich der Wind ein wenig, und als laue Abendlüfte sie umspielten, sah die Welt für Paul schon wesentlich besser aus. Azador navigierte nach den Sternen, indem er sich einer Methode der Koppelrechnung bediente, von der Paul zwar in Büchern
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