Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
System. Wenigstens denke ich, daß es so lange ist – erst als ich das Feuerzeug hatte, konnte ich die Zeit in der wirklichen Welt feststellen.«
    »Du bist … der Bruderschaft entkommen?« Er bemühte sich nach Kräften, aber der Nachtduft drückte seine Lider herunter wie eine kühle, sanfte Hand, schläferte ihn ein.
    »Das begreifst du nicht.« Azadors Lächeln war gütig, verzeihend. »Du bist ein netter Kerl, Ionas, aber das ist zu hoch für dich. Du kannst nicht begreifen, was es heißt, von der Gralsbruderschaft gesucht zu werden. Du bist hier gefangen, ich weiß. Das geht vielen andern außer dir auch so. Aber du kannst dir nicht vorstellen, wie es für Azador ist, der sich nicht aufspüren lassen darf und den Schweinen, die das alles besitzen, immer einen Schritt voraus sein muß.« Bewegt von seiner eigenen Tapferkeit schüttelte er den Kopf. »Jetzt aber habe ich diesen Ort gefunden, wo ich sicher bin. Wo ich … glücklich bin …«
    Azador versank in Schweigen. Zufrieden, daß er nicht mehr denken mußte, ließ Paul sich in die wohlige Dunkelheit abgleiten.
    Irgendwann später stand die Sonne am Himmel, und Paul speiste abermals mit den schönen, freundlichen Bewohnern der Insel und labte sich an den süßen Blüten und anderen wunderbaren Gerichten. Das Licht auf der Insel war seltsam sprunghaft, wie es so fast übergangslos von hellem Tag zu finsterer Nacht und wieder zurück wechselte, aber das war eine minimale Unannehmlichkeit, wenn man dagegen die tiefen Beglückungen, die einem hier zuteil wurden, in die Waagschale warf.
    Während eines der sonnigen Abschnitte merkte er plötzlich, daß er auf einen Gegenstand starrte, der ihm unerklärlich bekannt vorkam, ein schimmerndes Stück Tuch mit dem Emblem einer Feder, ein hübsches Ding, das auf den Boden gefallen war. Nachdem er es eine Weile bestaunt hatte, wollte er schon weggehen, um einem Chor singender Stimmen zu folgen – die Inselbewohner sangen gern, einer ihrer vielen entzückenden Bräuche –, aber brachte es dann doch nicht fertig, das Tuch einfach liegenzulassen. Er blickte es eine Weile an, die ihm recht lang vorkam, obwohl es schlechter zu erkennen war, als die Sonne sich wieder hinter eine Wolke verzog. Eine kühle Brise kam auf und plusterte es. Paul bückte sich und hob es auf, dann stolperte er hinter den Sängerinnen her, die inzwischen längst nicht mehr zu sehen, aber noch leise zu hören waren. Sogar das Gefühl des weichen, glatten Stoffes war ihm eigentümlich bekannt, doch obwohl er das Tuch fest in der Hand hielt, hatte er es beinahe schon vergessen.
     
    Er konnte sich nicht erinnern, daß er sich zum Schlafen hingelegt hatte, aber er wußte irgendwie, daß er träumte. Er war wieder in dem Himmelsschloß des Riesen, in dem hohen Saal voll staubiger Pflanzen. Hoch über sich hörte er Vogelstimmen in den Baumwipfeln girren. Die geflügelte Frau stand dicht bei ihm, eine Hand auf seinem Arm. Blätter und Zweige umgaben sie beide, eine grüne Laube, verschwiegen wie ein Beichtstuhl.
    Die dunkeläugige Frau war jetzt nicht mehr traurig, sondern glücklich, erfüllt von einer strahlenden, geradezu fiebrigen Freude.
    »Jetzt kannst du mich nicht mehr verlassen«, sagte sie. »Du kannst mich nie wieder verlassen.«
    Paul wußte nicht, was sie damit meinte, aber scheute sich, ihr das zu gestehen. Bevor ihm einfiel, was er sagen konnte, wehte ein kühler Wind durch den Zimmerwald. Ohne zu wissen, wieso, war Paul klar, daß noch jemand den Raum betreten hatte. Nein, nicht bloß einer. Zwei.
    »Sie sind hier!« stieß sie atemlos vor Schreck hervor. »Wabbelsack und Nickelblech. Sie suchen dich!«
    Paul konnte sich nur noch erinnern, daß er sie fürchtete, aber nicht, warum, oder wer sie überhaupt waren. Er blickte sich um, wollte sich entscheiden, wohin er laufen sollte, aber die Vogelfrau hielt ihn noch fester. Sie schien jetzt jünger zu sein, ein ganz junges Mädchen. »Rühr dich nicht! Sonst hören sie dich!«
    Die beiden blieben stocksteif stehen wie Mäuse im Schatten einer Eule. Die Geräusche – raschelnde Blätter, knackende Zweige – kamen von beiden Seiten. Paul verspürte ein tiefes, würgendes Grauen bei der Vorstellung, daß die zwei Verfolger sie in die Zange nahmen wie zukneifende Finger, daß sie in der Falle saßen, wenn sie noch einen Moment länger blieben. Er packte die Frau am Arm – vogelzarte Knochen, fühlte er trotz seines Entsetzens – und zerrte sie auf der Suche nach einem Fluchtweg tiefer in

Weitere Kostenlose Bücher