Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
erkennen, die flache Gebäude sein konnten. Es wäre in der Tat erstaunlich gewesen, wenn es keine Anzeichen menschlicher Bebauung gegeben hätte, denn die Insel war die schönste, die er bis jetzt in dieser ganzen imaginären Mittelmeerwelt gesehen hatte. Selbst die Düfte, die der Wind ihnen schon seit einiger Zeit zutrug, blühende Bäume und feuchtes Gras und etwas nicht so recht Definierbares, stark wie Parfüm und doch so fein wie der Sprühnebel von einem Wasserfall, gaben Paul das Gefühl, daß das Leben, wenigstens in diesem Augenblick, gut war.
Als sie ihr Floß durch die sanfte Brandung auf den Sand zogen, der fein wie Knochenasche war, merkte Paul auf einmal, daß er vor Vergnügen lachte.
Er und Azador fegten den Hang zur ersten Wiese hinauf und rempelten und stupsten sich dabei wie Schuljungen, die Hitzefrei bekommen hatten. Bald schon standen sie hüfttief in weichen Sträuchern voll dicker weißer Blumen, deren Blütenblätter durchsichtig wie Rauchglas waren. Das Blumenfeld erstreckte sich fast eine Meile weit, und sie wateten mit hochgehobenen Händen hinein, um die wunderschönen Blüten nicht mehr zu beschädigen, als unvermeidbar war. Der Duft war hier noch stärker, aber schwerer zu bestimmen, berauschend wie ein alter Cognac. Paul hatte das Gefühl, er könnte für den Rest seines Lebens glücklich und zufrieden an diesem Ort bleiben und immer nur diesen einen herrlichen Duft genießen.
Als sie das Feld halb durchquert hatten, schien ihr Floß nicht nur eine weite Strecke, sondern auch eine lange Zeit zurückzuliegen, aus einem anderen Leben zu stammen. Menschen erschienen in den Türen der langen weißen Häuser auf den Hügeln vor ihnen und kamen langsam den Pfad hinunter, um sie zu begrüßen. Als die Inselbewohner den Rand der blühenden Wiese erreicht hatten, wo sie auf Paul und Azador warteten, lachten auch sie aus purer Freude über die kommenden Gäste.
Es waren schöne Menschen, Männer, Frauen und Kinder, alle hochgewachsen, alle wohlgestaltet. Ihre Augen strahlten. Einige sangen. Kleine Jungen und Mädchen nahmen Paul und seinen Gefährten an der Hand und führten sie den gewundenen Weg zu ihrem Dorf hinauf, dessen breite Dächer und weiße Mauern in der Sonne glänzten.
»Was ist das für eine Insel?« fragte Paul schläfrig.
Der lächelnde, würdevolle alte Dorfvorsteher nickte langsam, als ob Pauls Frage die Quintessenz aller Weisheit enthielte. »Die Lotosinsel«, sagte er schließlich. »Kleinod der Götter. Juwel der Meere. Hort der Seefahrer.«
»Aha.« Paul nickte ebenfalls. Es war herrlich hier. All diese Ehrentitel sagten viel zuwenig. Er und Azador hatten ein Mahl vorgesetzt bekommen, das noch üppiger und köstlicher gewesen war als selbst das Ambrosia der Nymphe Kalypso. »Lotos. Ein schöner Name.« Und auch irgendwie bekannt, ein exotisches Wort, das sein Gedächtnis angenehm kitzelte, aber ihn zu keiner weiteren Denkarbeit nötigte.
Neben ihm nickte Azador noch langsamer. »Gutes Essen. Alles ist sehr, sehr schön.«
Paul lachte. Es war witzig, daß Azador das sagte, da es überhaupt kein Fleisch gegeben hatte, nur Brot und Käse und Honig und Beeren und -seltsam, aber irgendwie passend – die weißen Blüten, von denen die Hänge überzogen waren. Aber es war erfreulich, daß der Zigeuner sich wohlfühlte und daß seine übliche griesgrämige Miene verschwunden war, wie weggeweht von der warmen Brise. Etliche der Dorfmädchen hatten bereits Azadors dunkle Männerschönheit bemerkt und saßen jetzt um ihn herum wie die Jüngerinnen eines großen Lehrers. Paul wäre vielleicht eifersüchtig gewesen, aber er hatte seinen eigenen Fan-Club, der nur wenig kleiner war als der des Zigeuners, und alle bestaunten jede seiner Bewegungen und hingen an seinen Lippen, als hätten sie seinesgleichen noch nie gesehen, ja sich nicht einmal träumen lassen, daß ein solches Inbild der Vollkommenheit auf Erden wandeln könnte.
Es war gut, befand Paul. Ja, alles war gut.
Er hatte das Zeitgefühl verloren. Er erinnerte sich düster, daß die Sonne mehr als einmal weggegangen war, vielleicht hinter die Wolken geschlüpft, aber die Dunkelheit war genauso erfreulich wie das Tageslicht gewesen, und es hatte ihm nichts ausgemacht. Jetzt war es wieder dunkel. Irgendwie mußte Paul nicht aufgepaßt haben, und es war Nacht geworden. Ein Feuer war in einem Steinkreis auf dem blanken Boden angezündet worden, obwohl sie sich mitten in dem idyllischen Dorfkern befanden, aber
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