Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
die grüne Wildnis hinein.
    Eine Weile hörte er nur das Krachen am Boden liegender Äste und das Peitschen und Klatschen von Zweigen und Blättern, dann jedoch ertönte hinter ihm ein wortloser Ruf, der von einer anderen, genauso kalten Stimme beantwortet wurde. Im nächsten Moment war er aus dem Dickicht heraus und prallte gegen das unüberwindliche Hindernis einer kahlen weißen Wand.
    Noch bevor er in den schützenden Dschungel zurückeilen konnte, erschien in der Wand ein ungeheures, träge blinzelndes Auge, rotgerändert und gnadenlos grausam.
    »Der Alte Mann!« heulte die Frau neben ihm auf, doch ihr Schrei wurde vom tiefen Grollen einer Stimme verschluckt, die unmenschlicher war als das Dröhnen eines Düsentriebwerks.
    »HINTER MEINEM RÜCKEN!« Sie war so laut, daß Paul Tränen ohnmächtiger Angst in die Augen traten. Vögel schossen erschrocken kreischend in die Luft, und Federn schwebten hernieder wie bunter Schnee. Die geflügelte Frau stürzte zu Boden wie von einem Schuß getroffen. »ABER ICH SEHE DICH!« donnerte die Stimme, und das Auge weitete sich, bis es größer zu sein schien als der ganze Raum. »ICH SEHE ALLES …!«
    Der Boden bebte unter der Gewalt der Stimme. Obwohl er sich nur mühsam auf den Beinen halten konnte, bückte Paul sich, um die Frau auf die Füße zu ziehen, doch als sie sich ihm zudrehte, war die Panik in ihrem Gesicht einem Blick ernster Eindringlichkeit gewichen.
    »Paul«, sagte sie. »Du mußt mir zuhören!«
    »Lauf! Wir müssen laufen!«
    »Ich glaube nicht, daß ich noch einmal in diese Welt kommen kann.« Bei diesen Worten verblaßte der große, staubige Garten. Die Donnerstimme des Alten Mannes klang zu einem wortlosen Hintergrundrauschen ab. »Es schmerzt mich, an einem Ort zu sein, wo sich eine Spiegelung von mir befindet. Es schmerzt mich schrecklich und macht mich schwach. Du mußt mir zuhören.«
    »Was redest du da …?« Ihm ging jetzt auf, daß er träumte, aber er verstand immer noch nicht, was mit ihm geschah. Wo war das grauenhafte Auge? War dies jetzt ein anderer Traum?
    »Du bist gefangen, Paul. Der Ort, wo du bist – er wird dich töten, so gewiß, wie deine Feinde dich töten würden. Du bist umgeben von … von Zerrbildern. Ich kann sie ausschalten, aber nur kurz, und es wird mich fast meine ganze Kraft kosten. Nimm den andern mit, den andern Waisen. Ich werde wahrscheinlich nicht in der Lage sein, noch einmal zu dir zu kommen, ob du die Feder hast oder nicht.«
    »Ich verstehe nicht …«
    »Ich kann sie nur kurz ausschalten. Geh jetzt!«
    Paul faßte nach ihr, aber jetzt löste auch sie sich auf, nicht in die Dunkelheit, sondern in ein mattes Zwielicht. Paul blinzelte, aber das häßliche graue Licht ging nicht weg, nichts Schönes trat an seine Stelle.
    Er stützte sich auf die Ellbogen. Ringsherum bot sich ihm ein unsäglich trostloser Anblick, nichts als Schlamm und verkrüppelte blattlose Bäume, und das bleiche Dämmerlicht machte das Ganze noch deprimierender. Gebilde, die er zunächst für bloße Aufstülpungen der schlammigen Erde hielt, gaben sich langsam als erbärmliche Behausungen aus Stöcken, Steinen und schiefen Lehmziegeln zu erkennen. Noch verstörender waren die erbärmlichen menschlichen Gestalten, struppig und zahnlos, die wie nickende Bettler dasaßen oder im Schlamm lagen und träge Arme und Beine bewegten, als schwämmen sie durch die tiefsten und zähesten Träume. Alles war schmutzig und elend, selbst die schmierigen Wolken am grauen Himmel waren dick und klebrig wie Schleim.
    Mit zitternden Knien rappelte Paul sich auf. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten – wie lange hatte er nicht mehr gestanden? Wo war er?
    Zerrbilder, hatte die Vogelfrau gesagt. Langsam, erschreckend wurde ihm der Sinn klar.
    Ich bin … schon die ganze Zeit hier? Habe hier geschlafen? Hier gegessen?
    Einen Moment meinte er, sich übergeben zu müssen. Er würgte den brennenden Magensaft hinunter, der ihm in die Kehle gestiegen war, und taumelte blindlings los, bergab Richtung Meer. Sie hatte gesagt, er solle den andern mitnehmen – wie hatte sie ihn genannt? Den andern Waisen? Sie mußte Azador meinen, aber wo war er? Paul brachte es kaum über sich, die wimmernden, wispernden Gestalten anzugucken, die sich zwischen den primitiven Hütten herumtrieben. Und er hatte sie schön gefunden. Wie war eine solche Verblendung möglich?
    Lotosesser. Die Erinnerung stieg an die Oberfläche seines Bewußtseins und platzte wie eine Blase. Die Blumen.

Weitere Kostenlose Bücher