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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Ich hätte es ahnen müssen …!
    Doch während er noch durch den Matsch des völlig heruntergekommenen Dorfes glitschte, wechselte der Wind die Richtung, und der Geruch weißer Blüten trieb den Hügel herunter. Die Brise, die ihm ihren süßen, stechenden Duft zutrug, war warm – alles wurde sofort wärmer. Die Sonne erschien, und die Wolken droben verflüchtigten sich augenblicklich und gaben den Blick auf den endlos weiten blauen Himmel dahinter frei.
    Paul blieb stehen, wie gebannt von den freundlichen weißgetünchten Steinmauern des Dorfes, den ordentlichen Wegen und umfriedeten Gärten, den heiter blickenden Menschen, die im Schatten des Olivenhains beisammen saßen, erzählten und sangen. War es schlicht ein Albtraum gewesen – der Verfall, der Schlamm? Bestimmt gab es keine andere Erklärung. Die berauschend duftende Luft von den Wiesen hatte ihn wieder zur Wahrheit erwachen lassen. Unmöglich, sich wieder von soviel Schönheit umgeben zu sehen und es dabei zu bedauern, daß der scheußliche Anblick von vorher weg war, auch wenn noch ein letzter kalter Schatten über ihm hing.
    Azador, dachte er. Ich wollte Azador suchen gehen. Aber ich kann ihn sicher auch später beim Abendessen finden, oder morgen …
    Paul merkte plötzlich, daß seine Hand krampfhaft etwas hielt. Er starrte den einst makellosen Schleier an, der jetzt derart mit grauem Schlamm besudelt war, daß man die eingewobene Feder kaum mehr sah. Plötzlich hörte er wieder die Stimme der Frau genauso deutlich, als ob sie an seiner Schulter stände.
    »Ich kann sie ausschalten, aber nur kurz, und es wird mich fast meine ganze Kraft kosten …«
    Er wollte nicht die Sicherheit des herrlichen Dorfes und die warme Sonne verlieren, aber er konnte ihre Stimme nicht vergessen, den rauhen, gebrochenen Ton der Sorge in ihren Worten. Sie hatte ihn gebeten … ihn angefleht, sich zu besinnen, hinzuschauen. Er hatte die schmutzige Feder in der Hand, und wo er sie umklammert hatte, war der Stoff ganz zerknüllt.
    Der Himmel verdüsterte sich, das Dorf verfiel wieder, als wäre ein Evolutionsrad vor ans Ende der Zeit oder zurück zu den armseligen Vorstufen der Zivilisation gedreht worden. Paul drückte sich den Schleier fest an die Brust, damit der Zauber der falschen Schönheit ihn nicht noch einmal übertölpelte und er für alle Zeit blind für die Wirklichkeit in diesem Morast hängenblieb.
    »Azador!« schrie er, während er sich bemühte, auf dem ekligen, modrigen Hang nicht auszurutschen. »Azador!«
    Er fand seinen Gefährten in einem Gewirr von nassen, nackten Leibern, ineinander verschlungen wie sich paarende Schnecken. Er bückte sich, faßte den Zigeuner an einem glitschigen Arm und zerrte ihn aus dem Haufen heraus. Als dünne, zerschundene Arme sich reckten, um sie beide wieder hinabzuziehen, stieß Paul einen Schrei des Abscheus aus und versetzte der nächstbesten verdreckten Gestalt einen Tritt. Alle Arme zuckten gleichzeitig zurück wie die Tentakel einer erschrockenen Seeanemone.
    Zuerst schien Azador kaum etwas mitzubekommen und ließ sich den Hügel hinunter zum Strand und auf ihr Floß befördern, doch als Paul das Floß über die vorderste Linie der Brecher hinausmanövrierte und der Geruch der Lotosblumen schwächer wurde, versuchte der andere Mann sich in die Brandung zu werfen und zum Ufer zurückzuschwimmen. Paul packte ihn und hielt fest. Nur die Tatsache, daß Azador noch im Bann des Blütenzaubers war, kraftlos und zitternd, gestattete es Paul, den immer verzweifelter werdenden Widerstand des Mannes zu brechen.
    Als zuletzt die Insel hinter dem Horizont ihren Blicken entschwand und der Wind jeden Geruch außer dem von Seetang aus der Luft wusch, gab Azador auf. Er robbte von Paul weg, streckte sich lang auf dem Deck des Floßes aus und schluchzte, wenn auch tränenlos, als ob man ihm das Herz aus dem Leib gerissen hätte.

Kapitel
Von einem Herzschlag zum nächsten
    NETFEED/KUNST:
    Gott sei Dank ist sie nicht schon wieder schwanger!
    (Entre-News-Kritik einer Inszenierung der Djanga Djanes Dance Creation)
    Off-Stimme: »… Wer wie ich das gelegentlich faszinierende, aber im ganzen grauenerregende Spektakel von Djanes’ Schwangerschaft und Entbindung in seiner Gesamtheit durchlitten hat, inbegriffen die unabsichtlich urkomische letzte Phase, wo tanzende Ärzte und Hebammen durch Blut und Fäkalien glitschten, wird sich freuen zu hören, daß Djanes uns in ihrem neuen Stück etwas mehr Terpsichore und etwas weniger Kloake gönnt,

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