Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Scheusal, das Orlando im Griff hatte, sah zu Tefi hinüber, der Fredericks mit seinen langen Flügeln umschlossen hielt. Sie schienen lautlos zu kommunizieren, vielleicht zu beratschlagen, wie sicher sie hier im Angesicht von zwei mächtigen Sphinxen waren, die ihre Kräfte zu einem Kampf auf Leben und Tod vereinigten. Dua kroch durch eine Phalanx angreifender Schildkrötenmänner, deren Schläge er kaum zur Kenntnis nahm, auf seinen Bruder zu. Etliche verschwanden unter Duas wuchtigem Rumpf mit weit aufgerissenen Mäulern, die selbst im Todeskampf stimmlos blieben. Schreie und noch ungeheurere Geräusche wurden wieder in dem düsteren Tempel laut, als die in ihrem Fraß gestörten Fledermäuse und Schlangen aufstoben wie ein schwarzer Schneesturm.
»Wir sollten in unser Geheimversteck …«, begann Tefi, als ein sausender Windstoß vom Tempeleingang ihn lang zu Boden streckte. Fredericks hätte sich beinahe losgerissen, aber Tefi hatte sie gleich wieder erhascht und stellte sich schwankend auf seine gespreizten Geierfüße. Der viel massivere Mewat hatte gewackelt, aber das Gleichgewicht bewahrt. Sie alle hörten draußen vor dem Tempel ein anschwellendes Heulen wie von einem anrückenden Tornado.
Ein Soldat krabbelte zerschunden und blutend durch das offene Tor.
»Er kommt!« kreischte der Mann. »Osiris kommt! Er reitet auf Benu, dessen Flügel Sturm und schwarzes Feuer sind, und in seinem Zorn erschlägt er sogar seine eigenen Anhänger!« Er stürzte bäuchlings hin und schluchzte.
Der Blick nackter Angst, den Tefi und Mewat diesmal wechselten, war viel leichter zu deuten, aber das verschaffte Orlando wenig Befriedigung. Auch wenn die beiden Diener sich vor ihrem Herrn fürchteten, konnte Osiris’ Ankunft die Aussichten für Orlando und Fredericks bestimmt nur verschlechtern. Hatte Bonnie Mae Simpkins nicht gesagt, er sei einer der höchsten Gralsherren?
Der pfeifende, gellende Wind steigerte sich zu einer solchen Lautstärke, daß die Menschen im Tempel, die noch am Leben waren, aus Ohren und Nasen blutend auf die Knie sackten. Plötzlich brach in Eingangsnähe ein hausgroßes Stück hoch oben aus der steinernen Decke heraus, zerschmetterte eine Gruppe Schildkrötenmänner und zersplitterte dann in mehrere mächtige Brocken, die hierhin und dorthin flogen und rollten und andere zermalmten, die den ersten Aufprall überlebt hatten. Diejenigen, die sich noch bewegen konnten, versuchten sich vom Eingang wegzuschleifen. Weitere massige Steine lösten sich aus den Mauern und krachten wie Bomben herunter. Die Kriegsgötter und einige wenige Schildkrötenmänner kämpften weiter selbstvergessen gegen die schwächer werdenden Sphinxe an, aber ringsherum schien die Welt unterzugehen.
Während Orlando sich machtlos im klebrigen Griff seines Häschers wand, wurde das Heulen des Windes vor dem Tempel noch stärker und furchtbarer. Orlando knackten die Ohren mit einem stechenden, heißen Schmerz. Die gesamte Vorderseite des Tempels wölbte sich wie der Bauch eines gigantischen steinernen Lebewesens, dann stürzte die Wand nach innen ein.
Er konnte gerade noch eine unvorstellbar riesige Gestalt draußen am Nachthimmel erkennen, ein von Flammen umrissenes schwarzes Etwas von der Größe eines Passagierflugzeugs, das mit schlagenden Flügeln das in der Tempelfassade aufgerissene Loch ausfüllte, als einer der mächtigen Torsteine an ihnen vorbeisauste und dabei den Kobramann Mewat hart am Kopf streifte, so daß er über Orlando zusammenbrach.
Einen kurzen Moment lang fühlte Orlando, von dem kolossalen Gewicht schier erstickt, die endgültige Finsternis so nahe wie ein Flüstern im Ohr. Das Brüllen des Windes hatte aufgehört, und eine große, pulsierende Stille war eingetreten. Er verspürte den starken Drang, loszulassen, in die Freiheit und Ruhe einzutreten, die auf ihn warteten.
Aber ich kann nicht … war sein einziger Gedanke. Es gab etwas, das er noch tun mußte, auch wenn er sich im Augenblick nicht vorstellen konnte, was das sein mochte.
Ein wenig Luft strömte wieder in seine Lungen ein, brannte ihm die Kehle hinunter. Der enorme Wanst des Kobramannes preßte ihm Kopf und Schulter auf die Steinplatten, so daß er das Gefühl hatte, in einer übelriechenden, schuppigen schwarzen Masse zu ertrinken. Er stemmte sich dagegen, aber Mewats schlaffe Leibesfülle war nicht vom Fleck zu bewegen. Er drückte mit den Armen, um sich nach hinten zu schieben, aber bekam sie nicht so weit frei, daß er die Ellbogen
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