Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
beendet hatte. Diener und Rebellen gleichermaßen hatten sich bäuchlings niedergeworfen und aus Furcht vor seiner Majestät geweint. Er hatte seine Macht als etwas Reales und Greifbares erfahren, das in Wellen von ihm ausging wie die Zerstörungswirkung einer Explosion. Und das war es, was Wells und die anderen – selbst der schlaue Jiun Bhao – nicht verstanden. Sie hielten die Art, wie er sich in seinen Simulationen heimisch einrichtete, für das Hobby eines alten Mannes, ein Zeichen der Schwäche, aber wie wollte man sich darauf vorbereiten, für alle Zeit in einem virtuellen Universum zu leben, wenn man sich nicht ganz darauf einließ? Und wie wollte man ein solches Universum regieren, wenn es einem nicht am Herzen lag?
Der Rest der Gralsbruderschaft, vermutete er, würde die Ewigkeit als eine sehr, sehr schwere Bürde erleben …
Der Gedanke an das Projekt brachte ihn zu seinen Problemen zurück. Isis wartete, still wie ein Teich im Hochgebirge.
»Nein«, wiederholte er, »das eigentliche Problem ist, daß ich meinem eigenen Betriebssystem nicht traue – dem Andern, dem Wesen, das du als Seth kennst.«
Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Dunkel ist er. Verloren und ruhelos.«
Er konnte sich ein leises Lächeln der Befriedigung nicht verkneifen. Obwohl sie nichts weiter war als Code, sagte sie manchmal Sachen, die über ihren engen Horizont hinausgingen. Sie war echte Wertarbeit. »Ja. Dunkel und ruhelos. Aber so, wie die Dinge stehen, bin ich auf ihn angewiesen. Seine Macht ist groß. Und ausgerechnet jetzt, wo die Zeremonie unmittelbar bevorsteht, ist er unruhiger denn je.«
»Du hast schon früher von der Zeremonie gesprochen. Ist das der Zeitpunkt, von dem an du immer und ewig mit mir leben wirst?« Ihr Gesicht glänzte erwartungsvoll, und einen Moment lang sah er etwas in ihr, das er vorher noch nie gesehen hatte, eine Mädchenhaftigkeit, die weder von Maman noch von Jeannette kam.
»Ja, von da an werde ich immer und ewig hier leben.«
»Dann darf bei der Zeremonie nichts mißlingen«, sagte sie mit ernstem Kopfschütteln.
»Aber genau da liegt das Problem. Es gibt womöglich keine zweite Chance. Wenn doch irgend etwas danebengeht …« Er blickte finster. »Und wie gesagt, Seth ist seit einiger Zeit unruhig.«
»Gibt es keinen andern Zauber, mit dem du die Zeremonie zum Gelingen bringen kannst? Bist du wirklich auf den Eingesargten angewiesen?«
Osiris seufzte und lehnte sich zurück. Die kühle Säulenhalle war ein Ort des Rückzugs, aber seine Probleme ließen sich nicht auf Dauer verdrängen. »Ein anderer ist vielleicht noch imstande, den Zauber zu wirken, den ich brauche – aber er ist mein Feind, Ptah.« Ptah war der Welt ansonsten unter dem Namen Robert Wells bekannt, aber Jongleur war jetzt in die beruhigenden Rhythmen der Osirisrolle eingetaucht und wollte sich die wohltuende Wirkung nicht verderben.
»Dieser gelbgesichtige Intrigant!«
»Ja, mein Liebes. Aber er ist der einzige, der unter Umständen ein alternatives System …« Er besann sich. »Er ist der einzige, der unter Umständen einen Zauber von solcher Stärke besitzt, daß ich auf Seth verzichten könnte.«
Sie glitt von der Liege und kniete sich zu seinen Füßen hin. Sie nahm seine Hand, und ihr hübsches Gesicht wurde ernst. »Du beherrschst den dunklen Seth, mein Gemahl, aber Ptah beherrschst du nicht. Wenn du ihm solche Macht verleihst, wird er sie dann nicht gegen dich mißbrauchen?«
»Vielleicht, aber Ptah wünscht genausowenig wie ich, daß die Zeremonie mißlingt. Sie muß gelingen, für uns alle – wir haben so lange gewartet, so hart gearbeitet, so viel geopfert … und so viele.« Er lachte bitter. »Aber du hast recht. Wenn ich Ptah zu meinem Vertrauten machte, wenn ich seine Macht benutzte, um das Gelingen der Zeremonie und die weitere reibungslose Durchführung des Gralsprojekts zu gewährleisten, welche Sicherheit hätte ich dann, daß er sie hinterher nicht gegen mich verwendet?« Diese Sorgen laut auszusprechen war sowohl bedrückend als auch köstlich – die Freiheit, die Erleichterung, jemandem seine Ängste zu zeigen, und sei es nur einem Codekonstrukt, war geradezu berauschend. »Ptah haßt mich, aber er fürchtet mich auch, nicht zuletzt wegen der Dinge, die ich geheimgehalten habe. Was würde geschehen, wenn dieses Gleichgewicht kippte?«
»Du beherrschst Seth, aber Ptah beherrschst du nicht«, wiederholte Isis hartnäckig. »Dein Feind ist wie eine Natter, mein Gebieter. Sein gelbes Gesicht
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