Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
nach Worten zu ringen. »Das Fon hier hat geklingelt.«
Renie sah nicht, was daran besorgniserregend sein sollte. »Na und? Das ist eine alte Anlage – früher haben Fone immer geklingelt.«
»Ja, aber es hat geklingelt und geklingelt und geklingelt.« Eine statische Störung rauschte durch ihre Kopfhörer und machte die letzte Wiederholung fast unhörbar. Dann war er abrupt wieder sehr klar zu verstehen. »Da bin ich drangegangen.«
»Was bist du? Warum um Himmels willen hast du das gemacht?«
»Rente, schimpf nicht mit …« Wieder ein lautes Rauschen. »… meinte, ich werde verrückt. Schließlich war, nachdem ihr …« Die Pause entstand diesmal durch Jeremiah, aber gleich darauf kam die nächste Störung. »Jedenfalls bin … gangen … andern Ende … sagte …«
»Ich kann dich nicht hören! Sag das nochmal!«
»… war es … hat … erschreckt …«
»Jeremiah!«
Seine Stimme war schwach geworden und klang jetzt wie eine Biene, die in einem mehrere Meter entfernten Pappbecher summt. Renie rief abermals seinen Namen, doch es war zu spät die Verbindung war weg. Unmittelbar darauf fühlte sie, wie ihre Wahrnehmung der Tankumgebung ebenfalls schwächer wurde, so als ob eine starke Hand mit unwiderstehlichen und doch samtweichen Fingern ihr Bewußtsein gepackt hätte und es ihr nach und nach aus dem Körper zöge. Sie hatte gerade noch Zeit, sich zu fragen, was geschehen wäre, wenn sie den Tank tatsächlich verlassen hätte, da wurde sie auch schon zurück in die Leere gesaugt. Die Dunkelheit dauerte nur einen Moment, dann flog die Welt – die virtuelle Welt – in einem Sturm vielfarbiger Partikel wieder zusammen wie ein eingestürztes Kartenhaus in einem rückwärts laufenden Film, bis Renie abermals die Treppe unter den Füßen hatte und das Gesicht von Bruder Factum Quintus vor sich sah, den Mund noch zu der Bemerkung geöffnet, zu der er vorher angesetzt hatte.
»Hinzu kommt …«, war alles, was er sagen konnte, bevor Renie zu seiner Überraschung erschlaffte und auf den Stufen zusammenbrach.
»Factum Quintus hat also gar nichts davon gemerkt«, sagte Renie leise. Sie hatte ihre Ohnmacht als einen Schwindelanfall ausgegeben, und der Mönch hatte sich schon wieder umgedreht und stieg weiter die Treppe hinauf. »Für ihn war es, als ob nichts passiert wäre. Er hat einfach abgeschaltet und dann wieder an.«
»Bestimmt deshalb, weil er ein Replikant ist«, flüsterte Florimel, die sich genau wie Renie an die seltsame Höflichkeitsregel hielt, in Factum Quintus nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, er könnte ein künstliches Wesen sein. »Meine Erfahrung war in etwa wie deine. Von all diesen … spasmischen Anfällen, die ich hier im Netzwerk durchgemacht habe, war das der merkwürdigste. Ich war wieder in meinem eigenen Körper. Ich … ich habe meine Tochter neben mir gefühlt.« Sie zögerte, dann wandte sie sich abrupt ab und eilte dem Mönch hinterher.
»Was mir widerfuhr, war anders«, sagte !Xabbu , der neben Renie einherhoppelte. »Aber ich würde gern ein Weilchen darüber nachdenken, bevor ich dir davon erzähle.«
Renie nickte. Sie war von der kurzen Rückkehr sehr mitgenommen und hatte noch keine große Lust zum Reden. »Ich denke, wir haben eh keine Chance, da durchzublicken. Irgendwas ist im Gange – ich kann nicht glauben, daß es normal ist, wenn alles dermaßen verrückt spielt. Aber was es damit auf sich hat …«
Renie verstummte, als sie auf den letzten Treppenabsatz traten, von dem aus eine Tür in das Dachzimmer des Turmes führte. Der Raum, ein Achteck mit einem altmodischen Bleiglasfenster in jeder Wand, maß nur wenige Meter. Der Himmel draußen war kobaltblau, aber an den Rändern wurde die Nacht schon aufgezehrt, und im blassen Morgenrot zeichnete sich der wunderliche Horizont ab.
Aber Horizont, dachte Renie, war eigentlich nicht das richtige Wort – was sie an Horizont sehen konnte, waren nur die fernsten, dem Auge gerade noch erkennbaren Teile des Hauses. Es ging ihr kurz durch den Kopf, ob die Hauswelt gekrümmt war wie die natürliche Erdoberfläche oder so flach, wie sie unendlich zu sein schien, aber sehr viel fesselnder als solche Spekulationen war das Panorama des Turritoriums, das sich rings um sie herum entfaltete.
Es war offensichtlich, wo der Name herkam. Statt von Satteldächern, Flachdächern und Kuppeln wie bei den bisherigen Ansichten des Hauses sah sich Renie jetzt beim Blick durch die Turmfenster von einer Unmenge vertikaler Formen in
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