Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
eine himmlische Offenbarung.
Ich … ich bin draußen!
Der Kräftefluß auf ihrer Haut mußte das Gel im V-Tank sein, das bis auf weiteres vom Otherlandnetzwerk abgekoppelt war und Zufallsmuster erzeugte, statt Realitäten nachzuahmen. Das hieß … das hieß, daß sie einfach den Griff an der Innenseite des Tankdeckels ziehen und aussteigen konnte! Nach den vielen Wochen war die reale Welt zum Greifen nahe.
Wie aber, wenn das nur vorübergehend war? Oder wenn !Xabbu nicht das gleiche erlebte und er im Netzwerk zurückblieb? Es fiel ihr schwer, klar zu denken – vor Aufregung, daß die Welt, die sie so weit weg gewähnt hatte, sie auf einmal wieder umgab, bekam sie regelrecht Klaustrophobie. Wie konnte sie hier in dem unbeleuchteten Tank schwimmen, wo sie doch mit wenigen Bewegungen an die wirkliche Luft und das wirkliche Licht kommen konnte? Selbst ihren Vater zu sehen, diesen elenden alten Saftsack, wäre eine solche Freude …!
Bei dem Gedanken an Long Joseph kam ihr die Erinnerung an Stephen, und plötzlich schlug ihre Aufregung in einen kalten, schweren Druck um. Wie konnte sie aussteigen, wenn sie gar nichts für ihn getan hatte? Sie wäre frei, sicher, aber er würde weiter wie eine Leiche unter diesem grauenhaften Zelt liegen und verkümmern.
Das Adrenalin breitete sich rasend in ihr aus wie ein Buschfeuer. Wofür sie sich auch entschied, sie hatte vielleicht nur Minuten oder gar nur Sekunden, bevor es vorbei war. Sie schob sich durch das zähe Gel auf eine Seite des Tanks, bis ihre Hände auf etwas Hartes und unregelmäßig Glattes stießen – die Innenwand des Tanks und seine Millionen Druckdüsen. Sie ballte die Finger zur Faust und suchte sich eine Stelle, wo der Gegendruck schwächer war, dann pochte sie an die Wand. Ein dumpfer Ton wie von einem in eine Decke gewickelten Gong drang so leise zu ihr, daß es ihr undenkbar erschien, irgend jemand könnte ihn hören, bis ihr einfiel, daß sie nicht bloß eine Maske, sondern auch Kopfhörer aufhatte. Sie klopfte wieder und immer wieder, und je öfter sie dies tat, ohne daß etwas passierte, um so stärker wurde der Drang, alle Verantwortung fahrenzulassen und einfach den Tank zu öffnen. Fliehen. Es wäre so wunderbar, fliehen zu können …
»H-Hallo?« Es klang zögernd, aber sehr nahe.
»Jeremiah? Bist du das?« Seine Stimme in ihrem Ohr zündete einen Erinnerungsfunken, und sein Gesicht trat ihr so deutlich vor Augen, als wäre er plötzlich neben ihr in der Dunkelheit erschienen. »O Gott, Jeremiah?«
»Renie?« Seine Stimme zitterte, und er klang noch überraschter als sie. »Ich … ich laß dich raus …«
»Nicht den Tank aufmachen! Ich kann’s nicht erklären, aber ich will nicht, daß der Tank geöffnet wird. Ich weiß nicht, wieviel Zeit ich habe.«
»Was …?« Er stockte, hörbar erschüttert. »Was ist mit euch, Renie? Nach den ersten paar Minuten, die ihr drin wart, konnten wir nicht mehr mit euch reden. Das ist Wochen her! Wir hatten keine Ahnung, was …«
»Ich weiß, ich weiß. Hör einfach zu. Ich weiß nicht, ob es irgendwas bringt, aber jedenfalls sind wir immer noch in dem Netzwerk. Es ist riesig, Jeremiah. Es ist … ach, es ist überhaupt nicht zu beschreiben. Es ist der reine Wahnsinn. Wir versuchen immer noch, das alles zu verstehen.« Dabei verstanden sie so gut wie nichts – wie sollte sie bloß schildern, was sie erlebt hatten? Und was sollte es für einen Nutzen haben? »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Irgendwas hält uns online – ich bin jetzt zum erstenmal, seit wir uns reingehäckt haben, aus diesem Irrsinnsnetzwerk draußen. Und es hängen noch andere Leute mit drin. Verdammt, wie kann ich das erklären? Irgendwer hat uns grade gesagt, wir sollen zu Ilions Mauern kommen, was wahrscheinlich eine Simulation des Trojanischen Krieges ist, aber wir wissen nicht, warum und wer uns da hinhaben will und … und überhaupt …« Sie atmete tief durch und wurde sich dabei wieder bewußt, daß sie in der Dunkelheit schwamm, von einer dünnen Wand voller Mikroapparaturen von der Außenwelt getrennt. »Herrje, ich hab mich noch gar nicht nach dir erkundigt, nach meinem Vater! Wie geht’s euch? Ist alles in Ordnung?«
Jeremiah zögerte. »Dein Vater … deinem Vater geht’s gut.« Pause. Trotz ihres jagenden Herzens hätte Renie beinahe geschmunzelt. Bestimmt trieb er Jeremiah zum Wahnsinn. »Aber … aber …«
Sie hatte plötzlich den sauren Geschmack der Furcht im Mund. »Aber was?«
»Das Fon.« Er schien
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