Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Turritoriums«, bemerkte Factum Quintus, »des Türmegebietes. Ein sehr faszinierender Teil des Hauses.« Sein Atem ging etwas schwer, doch ansonsten hatte er die Gefangenschaft bei den Banditen und die unerwartete heilige Erscheinung viel besser verkraftet als Renies vermeintlich abgehärteteres Grüppchen. Der Mönch hatte eine beinahe kindliche Art, sich für alles zu interessieren, auch für Schauriges und Gefährliches – in vieler Hinsicht eine gute Eigenschaft, aber Renie konnte nicht umhin, sich um seine Sicherheit zu sorgen.
Jetzt mach halblang, ermahnte sie sich. Er ist bloß ein Replikant. Genausogut könntest du um die Figuren in Netzfilmen bangen.
Aber an der Vorstellung von Factum Quintus als einem künstlichen Wesen, einem Ensemble codierter Verhaltensweisen, war schwer festzuhalten, wenn dieses Ensemble leicht gerötet neben ihr herspazierte und vor Freude über einen antiken Endpfosten leise vor sich hinbrabbelte.
»Wieso ist es wichtig, ob die Sonne aufgegangen ist oder nicht?« erkundigte sich Florimel.
»Weil der Ort, zu dem wir wollen, viele Fenster hat – und die andern Orte auch. Ihr werdet schon sehen.« Der Mönch blieb auf dem Treppenabsatz stehen und wollte gerade noch etwas hinzufügen, als plötzlich das ganze Universum einen Ruck machte, als wollte es etwas abschütteln, das ihm über den Rücken krabbelte.
Renie hatte nur noch Zeit zu denken: O nein, nicht schon wieder …!, bevor die Welt wegkippte.
Schlagartig verschwamm ihre Umgebung und floh in alle Richtungen davon, so daß es Renie vorkam, als schrumpfte sie selbst auf die Größe eines Atoms, doch gleichzeitig stürzte alles auf sie ein, schien die ganze Realität zusammenzuklappen und sie zu zermalmen. Für einen Sekundenbruchteil durchfuhr sie ein fürchterlicher, reißender Schmerz, so als ob ihre Nerven die Zähne eines Kammes wären, der über eine grobe Backsteinmauer gezogen wurde. Dann verschwand der Schmerz und alles andere auch.
Sie hatte diese Realitätsbeben schon mehrmals erlebt, aber noch nie war eines über einen solchen Zeitraum gegangen. Sie schwebte lange in der Finsternis – auch wenn ihr Zeitempfinden wahrscheinlich verzerrt war, konnte sie während der Finsternis über viele Dinge nachdenken.
Mir ist … anders zumute. Anders als die vorigen Male. Als wenn ich tatsächlich irgendwo wäre. Aber wo?
Sie konnte auch ihren Körper fühlen, was ungewöhnlich war. Soweit sie sich erinnern konnte, war sie bei den früheren Aussetzern immer körperlos gewesen – ein freischwebendes Bewußtsein, das einem Traum zuschaute. Aber jetzt konnte sie sich selbst wahrnehmen, und zwar bis in die Finger- und Zehenspitzen hinein.
Wie hieß das nochmal, diese Ganzkörperwahrnehmung? War ihr das Wort entfallen, so wie ein Großteil ihres wissenschaftlichen Vokabulars und andere Wissensbrocken nach dem Studium im grauen Alltag untergegangen waren, in dem sie Prüfungsarbeiten bewerten und versuchen mußte, beschränkte Kenntnisse zu ordentlichen Seminaren aufzublasen? Nein, es hieß …Propriozeption. Das war das Wort.
Ein mildes warmes Glühen erfüllte sie, die Zufriedenheit, darauf gekommen zu sein. Aber damit einher ging der immer stärker werdende Eindruck, daß etwas nicht stimmte, anders war als vorher. Propriozeption war in der Tat das richtige Wort, und ihre propriozeptiven Sinne übermittelten ihr seltsame Wahrnehmungen. Sie war schon so lange im Netzwerk, daß es eine Weile dauerte, bis sie schließlich begriff.
Ich hab ein Gefühl, als hätte ich wieder einen Körper. Ein richtigen Körper. Meinen Körper!
Sie bewegte die Hände. Sie bewegten sich. Eigenartige Strömungen schlugen dagegen, Druck und Zug wirkten auf sie ein, aber sie fühlte ihre eigenen Hände. Sie berührte sich, strich sich mit den Händen über die Arme, die Brüste, den Bauch und staunte, wie verblüffend normal sich ihr Körper anfühlte. Ihre Finger glitten zum Gesicht hoch und trafen auf Schläuche … und eine Maske.
Das bin ich! Der Gedanke war so bizarr, daß sie es im ersten Moment gar nicht fassen konnte. Die Vermengung von Real und Irreal war ihr dermaßen zur Gewohnheit geworden, daß sie sie nicht auf Kommando sein lassen konnte, doch die Tatsachen schienen unbestreitbar zu sein:
Sie berührte ihren eigenen nackten Körper. Sie hatte wieder die Blasenmaske mit den daranhängenden Schläuchen und Kabeln vorm Gesicht. Was das zu bedeuten hatte, war ihr nicht gleich klar, doch als es ihr langsam aufging, war es wie
Weitere Kostenlose Bücher