Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
weiterzumachen. Nachdem Stephen so gut wie tot war, war der kleine Mann der liebste Mensch, den sie noch hatte.
»Wir sind müde, Renie.« Florimel mußte sich deutlich beherrschen, keinen ärgerlichen Ton anzuschlagen. »Wir müssen schlafen.«
»Aber …«
»Sie hat recht«, sagte !Xabbu . »Ich werde meine Meinung nicht ändern, aber du wirst es vielleicht anders sehen, wenn du dich ein wenig erholt hast. Ich übernehme die erste Wache – bevor es dunkel ist, werde ich ohnehin nirgends hingehen, wir können also den Tag über so lange schlafen, wie wir wollen.«
»Ich will nicht schlafen«, meldete sich Emily mit zitternder Stimme. »Ich will nach Hause. Ich … ich finde es furchtbar hier.«
Renie betete um Geduld. »Du bist schon an schlimmeren Orten gewesen.«
»Nein.« Das Mädchen klang sehr überzeugt. »Es macht mich ganz krank, hier zu sein. Und für mein Baby ist es auch schlecht.«
Renie überlegte, ob es hier Vorgänge gab, die ihnen verborgen blieben, aber sie hatte nicht die Kraft, weiter nachzufragen. »Tut mir leid, Emily. Wir verschwinden hier, sobald wir unsere Freundin Martine befreit haben.«
»Ich will gar nicht hier sein«, grummelte Emily, aber leise, wie ein Kind, das trotzig der Mutter widerspricht, obwohl diese das Zimmer bereits verlassen hat.
»Schlaf«, sagte Florimel. »Nutz die Gelegenheit und schlaf.«
Das minutenlange Schweigen, das darauf folgte, war keineswegs erholsam, und an Schlafen, wie Florimel es empfohlen hatte, war gar nicht zu denken. Renie bemerkte, daß sie immerzu die Fäuste ballte und öffnete. Sie spürte, daß !Xabbu sie ansah, aber sie wollte seinem Blick nicht begegnen, auch nicht, als er näher heranrutschte.
»Es gibt da eine Geschichte, die sich meine Leute erzählen«, sagte er leise zu ihr. »Vielleicht möchtest du sie hören?«
»Ich würde sie auch gern hören«, verkündete Bruder Factum Quintus, »- oh, wenn das nicht unhöflich ist, heißt das!« fügte er rasch hinzu, aber er konnte sein ethnologisches Interesse offensichtlich nur schwer bezähmen. Renie fragte sich, in was für ein wissenschaftliches Archiv !Xabbus Geschichte wohl wandern würde, um einen weiteren Faden in dem eigenartigen Historienteppich des Hauses abzugeben. »Und wenn die andern nichts dagegen haben, versteht sich.«
T4b stöhnte auf eine Art, die für Renie endgültig bestätigte, daß er tatsächlich ein Teenager war, aber trotz dieses Protestlauts machte er keinen Einwand.
»Spielt das gegenwärtig noch eine Rolle, was wir andern denken?« knurrte Florimel.
»Es ist eine gute Geschichte«, versicherte !Xabbu , »eine der schönsten meines Volkes. Sie handelt von der Käferin und dem Striemenmäuserich.« Er machte eine Pause und setzte sich in eine gemütliche Position. Sie hatten die schweren Vorhänge des Raumes zugezogen – anders als das Turmzimmer darüber hatte er nur ein Fenster –, aber ein feiner Strahl Morgenlicht stahl sich durch eine Lücke und ließ den Staub in der Luft silbern schimmern.
»Die Käferin war eine sehr schöne junge Frau«, begann er. »Alle jungen Männer hätten sie gerne geheiratet, aber ihr Vater Eidechs war ein böser alter Mann und wollte nicht, daß seine Tochter ihn verließ. Er hielt sie in seinem Haus, einem Loch tief unter der Erde, und ließ sie nicht ans Sonnenlicht hinaus. Kein Mann durfte sie freien.
Alle ersten Menschen gingen zu Großvater Mantis, beschwerten sich und sagten, es sei ungehörig, daß der alte Eidechs eine schöne junge Frau wie das Käfermädchen versteckt hielt und keinem der jungen Männer erlauben wollte, sie zu heiraten und Anteil an ihrer Schönheit zu haben. Großvater Mantis schickte sie mit der Auskunft fort, er müsse die Sache überdenken.
In der Nacht hatte der Mantis einen Traum. Ihm träumte, der Eidechs habe auch den Mond in sein Loch in der Erde verschleppt, und ohne Mond am Nachthimmel irrten die ersten Menschen orientierungslos und verängstigt umher. Als er aufwachte, beschloß er, es nicht zuzulassen, daß der Eidechs seine Tochter versteckte.
Der Mantis ließ den Langnasenmäuserich kommen, der ein stattlicher Bursche war, und erzählte ihm, was anlag. ›Du mußt den Ort finden, wo sie versteckt gehalten wird‹, sagte Großvater Mantis. Der Langnasenmäuserich war eine der besten Spürnasen unter den ersten Menschen, und so willigte er ein und machte sich auf die Suche nach der Tochter des Eidechs.
Als der Langnasenmäuserich sich schließlich dem Loch in der Erde
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