Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
um einem weiten Konterschlag mit dem Hakenstab zu entgehen.
T4b schrie zu ihr herunter: »Ich … ich komme, Renie!« Er hatte das überschnappende Kreischen eines panischen Jugendlichen in der Stimme.
»Nein!« brüllte sie. »Nicht!« Es wäre eine Katastrophe, einen kopflos herumstolpernden T4b mit auf dem Dach zu haben. »Tu’s nicht, Javier! Geh nach Emily und den andern schauen!«
T4b hörte nicht auf sie. Er hatte seinen Robotersim bereits über das Fensterbrett gelegt und mühte sich jetzt damit ab, die Beine nach unten zu schieben und sich gleichzeitig festzuhalten.
Der Mörder ließ sich einen Moment lang von dem Schauspiel ablenken. !Xabbu sprang von der Brüstung und flitzte über das Dach zu Renie hoch. Er blutete an Händen und Beinen, doch seine einzige Sorge galt ihr. »Du kannst nicht gegen ihn kämpfen«, keuchte er. »Er ist sehr schnell, sehr stark.«
»Wir kommen nie von diesem Dach runter, solange er am Leben ist«, erwiderte Renie, da geschah das Unglück.
T4b war ganz über den Rand gerutscht, hing jetzt in der Luft und strampelte wie wild, als ob das ihm das Dach irgendwie näher bringen könnte, aber das alte Fensterbrett hatte die Grenze seiner Belastbarkeit erreicht und brach heraus, so daß T4b mit einem Mörtelregen auf das Schrägdach stürzte.
Als sie den jungen Mann mit den Armen rudern sah, dachte Renie zunächst, er könne sich vielleicht fangen, aber als sein blasses Gesicht hochging und er den Wald der Türme um sich herum und die gähnenden Abgründe zwischen ihnen erblickte, bekam er es mit der Angst zu tun und streckte unkontrolliert die Arme nach dem unerreichbar hohen Fenster aus. Die Beine glitten ihm weg. Im nächsten Moment rollte er das Dach hinunter wie eine Kanonenkugel.
Bevor Renie Atem für einen Schrei schöpfen konnte, prallte T4b gegen die Brüstung. Sie war nicht solider gebaut als der übrige Turm, nur Bretter mit einer dünnen Putzschicht, und zerbrach splitternd. Mit verzweifeltem Grapschen gelang es T4b, seinen Fall zu bremsen, bevor er über den Rand hinausschoß, doch nur sein Bauch und sein Oberkörper waren noch auf dem Dach, seine Beine baumelten im Leeren. Er klammerte sich an die nachgebenden Bretter und fing an zu schreien.
!Xabbu sauste bereits zu ihm hinunter wie ein vierbeiniger goldbrauner Strich. Renie wollte ihrem Freund zurufen, er solle wegbleiben, sonst werde T4b in seiner Panik ihn höchstens noch mit in die Tiefe reißen, aber sie wußte, daß der kleine Mann nicht auf sie hören würde.
!Xabbu warf sich auf die Brüstung und schlang einen Arm um T4bs Kopf wie ein Rettungsschwimmer, der einen Ertrinkenden abschleppen will. Mit seinem anderen langen Arm hielt er sich an der zertrümmerten Holzkonstruktion fest, doch da sackte diese weiter ab, und T4b rutschte noch ein Stück mehr über den Rand. !Xabbu war jetzt zwischen T4b und den Überresten der Brüstung langgezogen wie auf einer mittelalterlichen Streckbank. Mit einem lauten Knirschen gaben die Bretter abermals ein Stück nach; uralte Nägel sprangen heraus, und Putzstaub stieg auf wie Rauch. Renie machte den Mund zu einem Warnruf auf.
Im Augenwinkel sah sie den Schatten, doch zu spät, um sich zu ducken. Sie konnte gerade noch die Hand hochreißen und die schlimmste Wucht des Schlages abfangen, aber die Stange schleuderte sie trotzdem zur Seite. Sie robbte wie besessen die Schräge hinauf, nur weg von ihrem Angreifer, doch da traf sie ein noch härterer Schlag im Kreuz, und ein Schmerz durchzuckte sie, als ob sie auf eine Handgranate gefallen wäre. Sie schrie auf und brach zusammen.
Harte Hände packten sie und rissen sie herum, und sofort plumpste ihr ein Gewicht auf die Brust. Das höhnische Grinsen in dem Quan-Li-Gesicht war einer seltsamen maskenartigen Schlaffheit gewichen, die Augen jedoch schienen auf eine gänzlich unmenschliche Art lebendig zu sein – der gierige, brennende Blick eines rauschhaften biologischen Triebes. Finger, unerbittlich wie mechanische Greifer, krallten sich in Renies Haare und zogen ihren Kopf zurück, daß die Kehle freilag. Sie hörte !Xabbu ihren Namen rufen, aber er war zu weit weg. Das Messer zuckte hoch, stumpfgrau die Klinge wie die bleiernen Dachplatten, grau wie der Himmel.
Es gab einen Knall wie von einem zerbrochenen Teller und gleichzeitig einen Ruck – überraschend leicht, wie ein Klaps auf den Bauch. Renie fühlte klebriges Naß über sich strömen.
Meine Kehle ist durchgeschnitten, dachte sie fassungslos, da fiel das
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