Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
sie hier liegenzulassen.« Sie senkte den Kopf.
»Meine Leute«, sagte T4b plötzlich, »die Indianer … von denen machen das manche.«
Renie und die anderen wandten sich ihm zu. Der junge Mann verstummte schüchtern. Sein bleiches Gesicht mit den angeklatschten glatten, schwarzen Haaren sah zart und verletzlich aus, wie es da aus der überdimensionalen kaputten Hülse seines Panzers herausschaute.
»Sprich weiter, T4b«, sagte Renie sanft. »Javier. Was meinst du?«
»Von den Indianerstämmen, da legen manche die Toten auf so Plattformen in Bäumen. Luftbestattung nennen sie’s. Sie werden den Vögeln und dem Wind überlassen, irgendwie.« Er war ernst und gefaßt; sein schnoddriges Straßengehabe war weitgehend von ihm abgefallen. »Das hier ist ähnlich, tick? Weil, wir könnten sie eh nicht schleppen, bis wo’s Erde gibt oder so, nicht?«
»Nein, da hast du recht.« Renie nickte. »Das gefällt mir. Wir überlassen sie hier … dem Wind.« Renie zog den Teppich zurück, bis Quan Lis Kopf freilag, dann trat sie von dem leeren Sim zurück und begab sich wieder zu ihren Gefährten. Hinter ihr lag die kleine dunkle Gestalt auf der Seite wie ein eingeschlafenes Kind, das eben noch das Aufschimmern der ersten Sterne über den spitzen Schattenrissen des Turritoriums beobachtet hatte.
Wie !Xabbu gemeldet hatte, war Martine am Leben. Bis auf eine Beule hinter dem Ohr schien sie auch unverletzt zu sein, obwohl sie immer noch bewußtlos war: Sie reagierte kaum, als sie sie von dem Rohr abschnitten, an das sie gefesselt worden war.
Florimel hatte weniger Glück gehabt. Als die Gruppe schließlich den Hugolinusturm hinuntergestiegen war und unten ein mit Teppichen ausgelegtes, fensterloses Zimmer gefunden hatte – !Xabbu hatte darauf bestanden, daß es keinen Blick auf das Turritorium und seine schwindelerregenden Winkel haben dürfe –, kümmerte Renie sich weiter um die Pflege ihrer Gefährtin, während !Xabbu zerbrochene Möbel in einen Kamin steckte, der dem Aussehen nach seit Jahrzehnten, wenn nicht noch länger, nicht mehr benutzt worden war.
»Dein Ohr ist ab«, teilte sie Florimel mit, die von dem schrecklichen Geschehen so mitgenommen und erschlagen zu sein schien wie Renie von ihren eigenen Begegnungen mit dem Tod. »Und ich kann’s zwar nicht sicher sagen, solange das Blut nicht ganz weggewaschen ist, aber dein linkes Auge sieht auch nicht sehr gut aus. Es ist völlig zugeschwollen.« Renie drehte sich fast der Magen um, als sich Gewebestreifen in Florimels Gesicht bei ihrer sorgfältigen Säuberung wie Seetang bewegten. Das Wissen, daß dieser Körper und somit auch seine Verletzungen rein virtuell waren, machte die Aufgabe nicht weniger unangenehm. »Sieht aber so aus, als hätte die Kugel dich verfehlt – abgesehen vom Ohr stammen die Wunden nur vom Schießpulver. Schätze, wir sind alle nochmal davongekommen.«
»Mach sie einfach sauber und verbinde sie«, sagte Florimel schwach. »Und schau mal, ob du noch was findest, was ich mir umlegen kann. Mir ist kalt, vermutlich vom Schock, fürchte ich.«
Sie legten ihr einen samtenen Wandbehang um die Schultern, aber Florimel zitterte trotzdem noch. Als !Xabbu das Feuer angezündet hatte, rückte sie näher heran. Bruder Factum Quintus entdeckte in einem der anderen Räume ein paar ältliche Leinenservietten in einer Truhe; in Streifen gerissen und zusammengebunden gaben sie halbwegs brauchbare Bandagen ab. Als Renie fertig war, sah Florimel mit den knotigen, unförmigen Binden am Kopf aus wie einem Horrorfilm entsprungen, aber die schlimmste Blutung war endlich gestillt.
Florimels gutes Auge lugte grimmig unter den Leinenstreifen hervor. »Das reicht«, sagte sie zu Renie. »Ruhe und Wärme werden mir jetzt am meisten helfen. Kümmere dich um die andern.«
Die sonstigen Verletzungen waren erstaunlich leicht. Sein Panzer hatte T4b vor fast allem außer Schnitten und Abschürfungen im Gesicht und an seiner natürlichen Hand geschützt – die andere schimmerte immer noch schwach und war unverändert –, aber Renie hatte das sichere Gefühl, daß sein Oberkörper unter der zerschossenen Brustplatte etwas abbekommen haben mußte.
Er wehrte ab. »Will ihn nicht ausziehen, klar? Hält mich wahrscheinlich zusammen, äi.«
Renie bezweifelte das und wünschte, er ließe sie etwaige Splitter von dem zerschmetterten Panzer entfernen, die sich in seine virtuelle Haut gebohrt hatten – wer konnte wissen, was für mögliche Infektionen in diese
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