Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
zwar steif wie in Bronze gegossen, aber daß Renie vorher unter dem sterbenden Sim gelegen hatte, erwies sich als Glücksfall. Der Bäuerinnenkittel hatte sich beim Vornüberfallen gebauscht, so daß die Innentasche offen geblieben war, nachdem der Sim und seine Kleidung hart geworden waren. Sie steckte die Hand hinein, nachdem sie ihren Widerwillen überwunden hatte, einen Leichnam, und sei er simuliert, zu berühren. Ihre Finger schlossen sich um etwas Schweres, Glattes.
»Gott sei Dank.« Sie zog das Feuerzeug heraus. Das massive kleine Metallding war unter dem grauen Himmel kaum zu erkennen; das Tageslicht schwand rasch. »Gott sei Dank.«
Und wenn die Tasche jetzt nicht offengestanden hätte? überlegte sie. Kann man noch durch den virtuellen Stoff an einem Sim schneiden, wenn er mal in diesen Zustand übergegangen ist? Ist es schlicht unmöglich, oder ginge es mit einem Brennschneider, oder wie die Dinger heißen – einem Schneidbrenner? Nicht daß wir sowas in dieser Welt hier gefunden hätten.
Dankbar, wenigstens in diesem Punkt Glück gehabt zu haben, stand sie auf und kroch wieder zurück. Die Vorstellung, die Quan-Li-Leiche durch das ganze Haus schleifen und ein Werkzeug suchen zu müssen, mit dem man die Kleidung aufschneiden konnte, war höchst unangenehm.
Emilys weitgehend untaugliche Versuche, erste Hilfe zu leisten, wurden vollends dadurch vereitelt, daß sie unbedingt aus dem zersplitterten Fenster auf ihren Helden T4b hinabschauen wollte wie eine kurzgeschorene Julia, und so kletterte !Xabbu empor, um nach Florimel zu sehen. Die Behendigkeit, mit der er die Mauer erklomm, machte Renie nachdenklich.
»Und wie kommen wir zwei wieder hoch?« rief sie zu ihm hinauf.
!Xabbu blickte über die Schulter. »Bruder Factum Quintus kommt gerade die Treppe hoch«, erwiderte er. »Er kann uns helfen. Wir können euch mit einem dieser Stoffvorhänge hochziehen.«
Der Mönch erschien am Fenster; er blinzelte und hielt sich den Kopf.
»Ich bedaure, daß ich keine Hilfe war«, sagte er, »aber es freut mich sehr, euch am Leben zu sehen. War das euer Feind? Ein selten gefährliches Individuum. Er sieht allerdings einer Frau erstaunlich ähnlich.« Er stützte sich auf die Fensterbank und stöhnte. »Ich glaube, ich habe mir den Kopf an jeder einzelnen Treppenstufe angeschlagen.«
»Florimel muß dringend versorgt werden, Renie«, meldete !Xabbu . »Sie blutet stark aus ihren Kopfwunden, und ein Ohr ist ab. Wir müssen einen warmen und geschützten Ort finden.«
»Die Ohren … an diesem Sim … haben mir sowieso … nie gefallen«, bemerkte Florimel matt.
»Auf dich muß man erst schießen, damit du einen Witz machst, was?« sagte Renie. Sie bemühte sich um einen lockeren Ton, aber es kostete sie fast soviel Anstrengung, wie vorher !Xabbus und T4bs Gewicht zu halten. »Okay, los geht’s. Ach so, könnt ihr noch einen von diesen Wandteppichen runterschmeißen, bevor ihr uns hochzieht?«
!Xabbu sprang drinnen zu Boden. Kurz darauf erschien er wieder, den schweren Teppich im Schlepptau. »Er ist ein bißchen zerrissen, wo ich ihn von der Wand gezogen habe«, erklärte er, während er ihn über die Fensterbrüstung schob.
»Das macht nichts«, entgegnete Renie. »Ich … ich möchte bloß Quan Li zudecken.«
»Das war nicht Quan Li, das war ein Monster«, fauchte Florimel und verzog gleich darauf vor Schmerz das Gesicht, als !Xabbu sich wieder ihren Verletzungen zuwandte. »Er hat William getötet und vielleicht auch Martine.«
»Lieber Himmel«, sagte Renie, »Martine! Hat irgendwer nach ihr geschaut? !Xabbu ?«
Aber der kleine Mann war bereits unterwegs zu dem Zimmer, in dem der Mörder im Hinterhalt gelegen hatte.
»Sie ist hier!« rief er. »Sie ist … Ich denke, sie lebt, aber sie ist … nicht wach.« Dann fiel ihm das Wort ein. »Bewußtlos! Sie ist bewußtlos.«
»Gott sei Dank.« Renie schwankte ein wenig. »Ich … ich möchte das hier grade noch erledigen«, sagte sie. »Auch wenn ein Monster diesen Sim benutzt hat, hat er doch einmal Quan Li gehört – der echten Quan Li –, und sie war eine von uns, wenn auch nur für die ersten Stunden.« Sie schritt wieder das Dach hinunter und breitete behutsam den Teppich über die erstarrte Gestalt. »Ich glaube, in einem Punkt wenigstens hat dieses … Scheusal die Wahrheit gesagt«, meinte sie und schaute dabei zu den anderen hoch. »Die echte Quan Li muß tot sein. Ich wünschte, wir könnten sie ordentlich bestatten. Ich finde es schrecklich,
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