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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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die auf den schwarzen, vermodernden Planken eines tief im Schlamm steckenden Schiffswracks wuchs. Die Schatten vor seinem inneren Auge bekamen einen roten Schimmer, aus dem sehr bald steile Streifen wurden, die hoch und immer höher strebten, auf einen dem Blick entzogenen Scheitelpunkt zu, und so den Umriß eines ins Unendliche zeigenden schwarzen Riesenpfeiles mit roten Flecken bildeten – eines unvorstellbar mächtigen, unfaßbar hohen Berges. Der oberste Teil des Kegels, den er erkennen konnte, wirkte kalt und dunkel – von der Schwärze des leeren Raums nur durch die wenigen blutroten Reflexionen abgehoben, die über die gewendelte Oberfläche zuckten –, aber unten, wo der unmögliche Berg breit wie ein ganzer Kontinent auf der grenzenlosen Ebene vor Paul stand, brannte er lichterloh.
    Paul sah zu, wie die Flammen am Fuß des gewaltigen schwarzen Undings emporzüngelten, und wußte, daß er ihn in einem anderen Traum schon einmal gesehen hatte. Es war keine große Überraschung, als er ihre Stimme hörte.
    »Paul, die Zeit wird immer knapper. Du mußt zu uns kommen.«
    Er konnte sie nicht sehen, konnte überhaupt nichts sehen außer der hochragenden Endlosigkeit des Berges in seinem Flammennest. Seine Augen wanderten zurück in die Höhe, wo das Schwarz des Berges vom Schwarz des Raumes nicht mehr zu unterscheiden war. Ein Lichtpünktchen glänzte dort, wo vorher nichts gewesen war, als ob die höchste Spitze des Berges einen Stern vom Firmament gekratzt hätte. Langsam und allmählich wie eine Feder, die an einem milden Frühlingstag herniederschwebt, glitt es auf ihn zu.
    »Wie kommt es, daß du mir auf die Art erscheinst, in Träumen?« fragte er. »Wie kommt es, daß ich mit dir reden kann und doch weiß, ich träume?«
    Die Stimme wurde immer deutlicher und näher, je weiter der Lichtfunke ihm entgegensank. »Träumen, das ist ein Wort, das wenig zu bedeuten hat«, sagte sie in seinem Ohr. »Du bist kein Ding, getrennt von allen andern Dingen. Nicht hier. Du bist wie ein Fischschwarm im Meer – du bist eine Ballung, eine Versammlung, aber das Meer fließt dennoch durch dich hindurch, um dich herum, über dich hinweg. Es gibt Zeiten, in denen du ruhst, da fließt die Meeresströmung, in der wir alle schwimmen, gut und gerade von mir zu dir.« Der schimmernde Punkt war jetzt größer und diffuser, eine leuchtende, transparente Gestalt, ein X aus einem wäßrigen Licht, das den Anschein erweckte, als käme die Frau tatsächlich durch ein flüssiges Medium mit seinem Druck und seinen Brechungen zu ihm.
    Zuletzt konnte er ihr Gesicht sehen. Trotz seiner Verwirrung und seiner Not erwärmten ihm die vertrauten Züge das Herz. »Nenn es, wie du willst, Traum oder nicht Traum, ich bin jedenfalls froh, daß du wieder da bist.«
    Ihre Miene war eher leidend als zärtlich. »Ich gebe mein Letztes, Paul. Ich glaube nicht, daß ich noch einmal die Kraft aufbringen kann, diese Distanz zu überwinden, auch nicht im Traum, wie du es nennst. Du mußt begreifen, daß die Zeit drängt.«
    »Was kann ich tun? Ich kann nicht zu dir kommen, wenn ich nicht weiß, wo du bist.« Er lachte, aber so grimmig und traurig, wie er es vorher noch nie im Traum gehört hatte. »Ich weiß nicht mal, was du bist.«
    »Was ich bin, ist jetzt nicht wichtig, denn wenn du nicht zu uns kommst, werde ich bestimmt bald gar nicht mehr sein.«
    »Aber was kann ich tun?« rief er.
    »Die andern, die du suchst – sie sind ganz in der Nähe. Du mußt sie finden.«
    »Den jungen Orlando und seinen Freund? Die hab ich doch schon gefunden …«
    »Nein.« Er konnte ihre Ungeduld hören, obwohl ihr Gesicht immer noch wenig mehr als eine helle Membran war, ein lichter Hauch vor der Silhouette des schwarzen Berges. »Nein, es gibt noch andere, und sie warten zwischen der alten und der neuen Mauer. Alle sind nötig. Ich werde versuchen, dich zu ihnen zu führen, aber du mußt dich anstrengen – meine Kraft ist begrenzt. Ich habe den Spiegel schon zu oft bemüht.«
    »Bemüht … Was soll das heißen? Und selbst wenn ich sie finde, wo bist du? Wo kann ich dich finden?«
    Sie machte eine Handbewegung, und ihr Licht begann zu verblassen. Zuerst hielt er es für eine Abschiedsgeste, und er schrie enttäuscht auf – ganz vage spürte er, wie sein Körper, ein fernes Ding, mit einem matten Zucken reagierte –, doch dann erkannte er, daß sie, noch während sie flackernd verlosch, auf etwas deutete.
    »Auf dem … Berg …« Ihre Stimme drang aus weiter Ferne

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