Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
zu ihm, bevor sie der schimmernden Gestalt ins Nichtsein folgte.
Der schwarze Berg hatte sich verändert. Die endlos langen, messerscharfen Kanten waren ganz bucklig und knorrig geworden und ergaben irgendwie eine andere Gestalt, so als ob eine Hand aus dem Weltraum ihn in seiner stolzen Starrheit wie Papier verformt hätte. Er ragte immer noch in unfaßbare Höhen empor, aber seine Linien wirkten jetzt gekrümmt und die Oberfläche im Flammenschein auf ganzer Breite uneben und rissig, während er sich hoch oben weit über den Himmel ausspannte wie ein schwarzer Wolkenpilz, wie … wie ein Baum.
Paul sehnte sich dorthin, sehnte sich zu verstehen, was er da sah, wollte sich jede Einzelheit einprägen, aber schon brannten die Feuer nieder und löste sich der schwarze Baum in den Hintergrund der Nacht auf. Als er schließlich mit der Finsternis verschmolz, wechselte die Perspektive, als ob Paul gewachsen oder der Gottesbaum geschrumpft wäre. Etwas, das vorher nicht dagewesen war, schimmerte in den obersten Ästen.
Er spähte angestrengt. Es sah glänzend aus, eigenartig tonnenförmig, ein im Geäst liegendes silbriges Gebilde. Erst im letzten Moment, bevor es wieder ganz entschwand, erkannte er, was es war.
Eine Wiege.
Stöhnend rappelte Paul sich auf. Ringsherum lagen die Ithakesier, die den Tag überlebt hatten, kreuz und quer an den Plätzen, wo sie sich nach der Schlacht hatten hinplumpsen lassen, und schliefen mit hängenden Mündern oder verkniffenen Stirnen, als wollten sie die unglücklichen Toten nachahmen.
Die Trojaner hatten sich nur ein kurzes Stück vom griechischen Schiffslager zurückgezogen, und obwohl das Sinken der Sonne dem Kampf ein Ende gemacht hatte, lagerten die Trojaner zum erstenmal seit langem auf der Ebene und nicht im Schutz der Mauern ihrer großen Stadt. Ohne Zweifel würden sie bei Tagesanbruch starken Druck machen und versuchen, das Übergewicht vom Vortag wiederzugewinnen und die Griechen ins Meer zu drängen.
Wie kann ein virtueller Körper nur so weh tun? ging es Paul durch den Kopf. Oder wenn es mein wirklicher Körper ist, der weh tut, warum haben diese Idioten dann das Ding so codiert, daß ich dermaßen von dem System gezüchtigt werde? Ist es wirklich so wichtig, daß eine Schlacht sich auch realistisch anfühlt?
Er schlurfte auf die Mauer zu und stieg zu einer Stelle hinauf, von wo aus er die Lichter der trojanischen Feuer und dahinter die Schattenmasse der fernen schlafenden Stadt sehen konnte. Der Traum war ihm noch so gegenwärtig, daß er halb einen riesenhaften schwarzen Gipfel zu sehen erwartete, der die Sterne verdeckte, aber nichts durchbrach die Linie niedriger Hügel hinter Troja.
Was sollte das darstellen? Eine Wiege? In einem Baumwipfel? Er massierte seinen schmerzenden Arm und ließ den Blick über das trojanische Lager schweifen, tausend Feuer, die wie Spalten in einem abkühlenden Lavastrom glühten. Und wer ist dort draußen? Er mußte vermuten, daß »zwischen der alten und der neuen Mauer« gleichbedeutend war mit »auf der Ebene«. Warum mußte die Frau, wer sie auch sein mochte, immer in Rätseln sprechen? Es war, als würde er durch einen griechischen Mythos mit seinen ganzen Orakeln und Tragödien geschleift.
Es gibt einen Grund, sagte er sich. Es muß einen geben. Ich habe ihn bloß noch nicht erkannt. Vielleicht liegt es irgendwie am System – oder an ihr.
Paul schlang seinen Umhang fester um sich und stieg wieder von der Mauer herunter. Während er durch das schlafende Lager zum Tor schritt, wunderte er sich, daß solche Stille in einer Welt herrschte, in der es nur Stunden zuvor noch drunter und drüber gegangen war wie auf einem Gemälde von Bosch. Er würde den Wachen erzählen, er wolle sich als Späher an die Trojaner heranschleichen – hatte Odysseus nicht tatsächlich so etwas getan? Er hätte viel lieber geschlafen und seine Wunden gepflegt, aber ihm war klar, daß dies womöglich seine letzte Chance war, jene unbekannten Anderen zu finden, die zwischen den Mauern warteten. Wenn es wieder so lief wie gestern, konnte es gut sein, daß es am Abend keine neue Mauer mehr gab und ihn selbst genausowenig.
> Salome Melissa Fredericks war kein Durchschnittsmädchen.
Ihre Mutter hatte das schon früh gemerkt, als nämlich ihre Tochter sich nicht nur weigerte, auf ihren Taufnamen zu hören, sondern auch auf »Sally«, »Sal«, »Melissa« – ein gescheitertes Ausweichmanöver – und (was vielleicht am wenigsten überraschte)
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