Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
gemeinnütziger Knoten, hat sich bei kommerziellen Knoten mit ähnlichen Namen unbeliebt gemacht, zum Beispiel bei dem Bekleidungsunternehmen StreetSmart.
(Bild: Vy Lewin von StreetSmart)
Lewin: »… Nein, die Unterstützung der Obdachlosen liegt uns sehr am Herzen – wir spenden wohltätigen Organisationen jedes Jahr viel Geld –, aber hier geht es um direkte Geschäftsschädigung. Leute, die diesen Streethouse-Knoten suchen, platzen einfach in unsere Ausstellungsräume rein und belästigen unsere Kunden. Wir hatten eine Gruppe Zigeuner, oder wie sie sich heutzutage sonst nennen, die in den großen Ausstellungssaal unseres Hauptverkaufsknotens eindrangen und nicht wieder gehen wollten. Wenn sie einmal einen Knoten wie unseren gefunden haben, einen mit vielen Unterhaltungsprogrammen und privaten Umkleidekabinen, kommen sie unter verschiedenen Tarnidentitäten immer wieder. Es ist ein echtes Problem.«
(Bild: Condé del Fuego von Streethouse)
Del Fuego: »Im Grunde genommen wollen die Händler schlicht, daß die Armen sich verdrücken, auch online. Es ist immer wieder das alte Lied: ’Jaja, ganz furchtbar, aber geht bitteschön woanders hin, um zu leiden.’«
> In dem Film, der ständig in seinem Hinterkopf lief, war Dread jetzt ein Ritter in glänzender Rüstung, ein einsamer Held, der sich zum Gefecht bereit machte. Seine Burg war ein ausgebautes Lagerhaus im Stadtteil Redfern, sein Knappe eine junge Frau namens Dulcinea Anwin, die er langsam und planmäßig seelisch zerstörte. Statt in einen Panzer mit Arm- und Beinschienen war er in eine Pflegestation Clinsor LR-5300 (prosaischer auch als Komabett bezeichnet) und – über immaterielle, aber keineswegs irreale Verbindungen – in die Matrix seines stark modifizierten Systems eingetaucht. Anstelle eines funkelnden Schwerts führte der Mann, der sich einst Johnny Dark genannt hatte, die einzige Waffe, der er vertraute, das weißglühende Feuer seiner Willenskraft – seinen Dreh.
»Wie sind die Werte?« fragte er, während er die letzten Vorbereitungen traf. Er zuckte nicht, als er den Katheter einführte.
Zersaust und ungewaschen blickte Dulcy zu ihm auf, die Augen noch hohl vom Jetlag. »Gut. Alles einsatzbereit.«
Von Ungeduld und drei Adrenaxpillen aufgeputscht, hatte er mitten in der Nacht ihre Tür aufgestoßen. Sie war mit den weit aufgerissenen, ängstlichen Augen aus dem Schlaf aufgeschreckt, die Dread mit Vorliebe bei seinen weiblichen Bekanntschaften hervorrief, aber für diese Frau hatte er eine andere, wichtigere Verwendung, wenigstens bis auf weiteres.
Während das Adrenalin ihn durchströmte wie heißes Gold, hatte er seine Euphorie kontrolliert in Charme umgelenkt. Amüsiert von der scheinbaren Intimität, die nur er voll begriff, hatte er sich auf ihre Bettkante gesetzt und sich dafür entschuldigt, wie distanziert und schroff er seit ihrer Ankunft gewesen sei. Er erzählte ihr, wie wichtig sie für ihn sei, wie dringend er ihre Hilfe brauche. Er gab sich sogar ein wenig schüchtern, als er andeutete, seine Gefühle für sie könnten mehr sein als bloß Kollegialität und fachliche Wertschätzung. Ein kurzes Aussetzen ihrer Wachsamkeit, eine aufschießende Verwirrung, die sie erröten ließ, hatten seine Vermutung bestätigt.
Bevor er wieder aus dem Zimmer gegangen war, hatte er sich vorgebeugt, mit der einen Hand sanft und fest zugleich ihren Hinterkopf und mit der anderen ihre Handgelenke gefaßt und sie zart auf den Mund geküßt. Scheinbar selbst überrascht von dieser plötzlichen Anwandlung der Leidenschaft hatte er ihr verlegen gute Nacht gewünscht und war dann zur Tür hinausgeschlüpft.
Er war sich ziemlich sicher, daß sie danach nicht mehr viel Schlaf gefunden hatte.
Mit einem Lächeln beobachtete Dread, wie sie sich übermüdet und durcheinander zwischen den Bildschirmen herumbewegte wie eine Schlafwandlerin. Er hatte sie jetzt soweit, daß sie haltlos zwischen Furcht und Begehren hin- und herpendelte. Wenn er seine Karten richtig ausspielte, kam irgendwann der Punkt, an dem sie sich aus dem Fenster oder vor ein Auto werfen würde, wenn er ihr es sagte – wobei er natürlich nicht vorhatte, ihren unvermeidlichen Tod auf eine so unpersönliche, so unbefriedigende Weise zu betreiben. Aber diese letzte Lust mußte noch warten; im Moment nützte sie ihm lebendig viel mehr. Er zog ins Unbekannte aus, um ein Ungeheuer zu bekämpfen. Er brauchte eine treue Seele, die ihm den Rücken deckte.
»Ich laß einen Kanal
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