Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
die Trojaner vor sich her wie Schafe. Groß war ihr Entsetzen, als sie den Panzer des Achilles erblickten.«
»Menschenskind, Fredericks, warum bist du nicht umgekehrt, nachdem du den Angriff zurückgeschlagen hattest?« jammerte Orlando. »Du totale Scäntüte!«
Mit Hilfe der Schildkröte hatte Orlando ein Schwert und einen Schild als Ersatz gefunden, als Thestor, unter der Last von Glaukos’ schwerer Rüstung keuchend, endlich zurückkam. Die Brustplatte glänzte wie ein volles Bowlengefäß.
»Das ist ja Gold!« sagte Orlando beeindruckt.
»Von der Schwere her hätte ich Blei vermutet«, japste der Alte. »Aber Helden sind stärker als gewöhnliche Sterbliche – zweifellos wirst du, mein König, das erdrückende Gewicht kaum merken, das einen alten Mann beinahe umgebracht hätte.«
»Hilf mir sie anziehen.«
Nachdem er sich erst um Geduld bemüht und dann ärgerlich versucht hatte, die Sache zu beschleunigen und die Stücke, bei denen das ging, selbst anzuschnallen, begann Orlando schließlich, in dem an den Beinschienen herumfummelnden Alten etwas anderes zu sehen als nur einen Teil der Kulisse. Einerlei, was dahinter stand, einerlei, was für ein Code sein Verhalten festlegte, der greise Thestor schien wahrhaftig zu sein, was er scheinen sollte – ein erschrockener, müder alter Mann mit zittrigen Händen. Orlando bereute seine Unbeherrschtheit.
»Schon gut.« Sanft, aber bestimmt entwand er den Händen des alten Freigelassenen die Leibbinde. »Das kann ich selber machen.« Das weißstopplige Kinn des Mannes erinnerte ihn plötzlich an seinen Vater, wenn er Sonntag morgens unrasiert so tat, als wäre es ein ganz normales Wochenende wie bei anderen Leuten auch, ungeachtet der Tatsache, daß er und sein Sohn nicht zum Baseball oder ins Museum oder zum Spazieren in den Park gingen. Trotz der Flüchtigkeit des Gefühls traf die Erinnerung ihn wie ein Fausthieb in den Magen; einen Augenblick befürchtete Orlando, gleich in Tränen auszubrechen.
»Hast du … hast du Kids zuhause?« fragte er Thestor.
Der alte Mann sah ihn perplex an. »Kitze? Von Ziegen? Nein, mein König, Ziegen habe ich gar keine. Ich habe nie Tiere besessen außer einem weißen Hühnchen und einmal zwei Hunden, aber ich verfügte nicht über die Mittel, sie zu füttern.«
Orlando verfluchte sich für seine Dummheit. »Nein, ich meinte Kinder. Hast du Kinder?«
Thestor schüttelte den Kopf. »Ich hatte eine Frau, aber sie ist tot. Ich diene deiner Familie jetzt seit vielen Jahren, Herr, und bin mit deinem Vater und dann mit dir in vielen Ländern gewesen, aber ich habe nie eine andere gefunden, die mir so gut gefiel wie sie.« Er richtete sich auf. »So. Jetzt bist du zum Krieg gewappnet, mein König. Du siehst aus wie Phoibos Apollon, wenn ich das sagen darf, ohne den Zorn des Gottes zu erregen.« Er dämpfte die Stimme. »Von Sterblichen leicht zu reizen sind sie, die Götter, Herr, falls du es noch nicht wußtest.«
»Oh, das weiß ich sehr wohl.« Orlando seufzte. »Das kannst du mir glauben.«
Er hielt sich mit Mühe auf dem ungesattelten Rücken des Pferdes, das ihn in rasendem Galopp über das Schlachtfeld trug. Überall lagen die Körper von Griechen und Trojanern in starren Posen auf dem Boden, als ob eine Wandplastik in einem Museum heruntergefallen und zerbrochen wäre. Die Sklaven, die hinter der weitertobenden Schlacht zurückgeblieben waren, um für ihre Herren oder für sich selbst die trojanischen Leichen zu plündern, richteten sich bei seinem Nahen auf und deuteten auf ihn, verwundert sowohl über seinen strahlenden goldenen Panzer als auch über den Anblick eines Kriegers, der auf einem Pferd ritt.
Aufgepaßt! dachte Orlando grimmig, während er die Rippen des Pferdes mit den Fersen bearbeitete, um es anzuspornen. Hier kommt die erste und kleinste Kavallerie der Welt.
Vor ihm rückte die glitzernde, brodelnde Masse der Kämpfer mit jedem Moment näher. Er hörte die Wut- und Schmerzensschreie der Männer, die wie dünne Fäden zum Himmel aufstiegen. Aasvögel kreisten in der Höhe und verfolgten das Anrichten des Festschmauses mit einer über Tausende von Generationen erlernten Geduld.
Ich komme, Fredericks. Bitte, sei nicht tot! Halte durch, bis ich da bin!
Mit trommelnden Hufen sauste das Pferd über das rauchende Feld.
Kapitel
Die Stätte, wo sie ruhen
NETFEED/NACHRICHTEN:
Kritik an Obdachlosenknoten
(Bild: Eingang zu Streethouse)
Off-Stimme: Streethouse, ein für die Obdachlosen eingerichteter
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