Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
vorher.
Die düstere Hütte war leer. Er rief: »Fredericks!« – aber nichts rührte sich. Er war nicht hungrig, und trotzdem hatte er einen mächtigen Drang, irgend etwas zu essen, zu trinken, das Energiefeuer seines Organismus mit etwas Soliderem zu schüren als mit den Nährstofflösungen vom Tropf, die seinen wirklichen Körper am Leben hielten.
Aber was du hier ißt, wird wohl kaum allzu solide sein, was, Gardiner?
Es war ihm egal. Er war wieder lebendig, halbwegs. Das wollte er feiern.
Er setzte schwungvoll die Füße auf den Boden und fühlte Erde unter den Sohlen. Schon das war ein Vergnügen, und er genoß es eine Weile. Als er sich hinstellte, wackelten seine Beine ein bißchen, bevor seine Knie sich fest durchdrücken ließen, aber die schreckliche Schwäche, die ihn seit seiner Ankunft hier die meiste Zeit über ans Bett gefesselt hatte, war weg. Er machte ein paar Schritte. Es ging.
Ich lebe! Fürs erste wenigstens.
Nach einigen weiteren vorsichtigen Schritten lehnte er sich an den Türpfosten, überprüfte erneut das Orlandinische Allgemeinbefinden und fand es recht ordentlich. Er drückte die Tür auf und trat blinzelnd in die Morgensonne hinaus. Der Himmel war blau und mit eigenartigen schwarzen Wolkenkrakeln beschmiert. Der Geruch brennenden Holzes war sehr stark.
Wo sind sie alle?
Er rief abermals nach Fredericks – keine Antwort. Das Lager schien ausgestorben zu sein. Ein paar Feuer glommen noch, aber sie konnten nicht die Ursache des starken Brandgeruchs in der Luft sein. Er ging ein Stück weiter und sah sich um, aber von den Myrmidonen keine Spur.
Bei seinem Gang durch das gespenstisch leere Lager versperrten ihm die Buge der großen schwarzen Schiffe den Blick auf die griechische Hütten- und Zeltstadt, aber er sah in der Ferne menschliche Gestalten und hörte undeutliche Stimmen. Aufgeschreckt von einem über die Sonne ziehenden Schatten blickte er auf und sah, daß die Streifen am Himmel keine natürlichen Wolken waren, sondern die windverwehten äußeren Ränder einer riesigen schwarzen Rauchsäule, die in ziemlich geringer Entfernung aus der Reihe der Schiffe aufstieg.
»Scännig!« Vom Anblick des Rauchs abgelenkt trat er auf einen spitzen Stein; er fluchte und hüpfte kurz auf einem Bein, dann kehrte er zur Hütte zurück, um seine Sandalen zu holen.
Als er sich bückte, um sie vom Boden aufzuheben, fiel ihm auf, daß sich noch etwas verändert hatte, seit er eingeschlafen war. Der Panzer und die Waffen, die in einer Ecke seiner Hütte gestanden hatten, waren fort, und zurückgeblieben war nur der leere Ständer, traurig wie ein Grabstein am Wegrand, und eine einzelne lange Lanze, die auf dem nackten Erdfußboden lag.
Ordentlich beschuht, aber von einem neuerlichen leichten Schwindelgefühl befallen trat er mit einem heftigen Stoß gegen die Tür wieder hinaus und wäre fast mit einem gebückten alten Mann zusammengeprallt, der sich mit einem Armvoll Brennholz abschleppte. Der Mann taumelte zurück, glotzte Orlando fassungslos an, dann schrie er auf und ließ die Holzscheite fallen.
»Wo sind sie alle?« erkundigte sich Orlando.
Der alte Mann tatterte seitwärts vor ihm zurück wie eine gichtbrüchige Krabbe, aber konnte den Blick nicht von ihm abwenden, so als ob Orlando ein ungeheuerliches Fabelwesen wäre. Er machte den Mund auf, wie um zu antworten, aber brachte nur ein Stöhnen heraus.
»Oh, chizz, was ist los? Hast du einen Dachschaden?« Orlando blickte sich um, aber sonst war niemand zu sehen. »Kannst du mir nicht sagen, wo alle hin sind?«
»Mächtiger Achilles, bist du es?« Der zahnlose Kiefer des alten Mannes klappte auf und zu.
»Ja, wer denn sonst?« Orlando deutete auf die Hütte. »Ich wohne hier, oder etwa nicht?«
Der gekrümmt dastehende Mann wimmerte beinahe. »Aber wer hat dann die tapferen Myrmidonen ins Gefecht geführt?« Er schüttelte den Kopf. »Haben die Götter uns mit einer grausamen Täuschung genarrt? Verflucht sei der Tag, an dem wir an dieser Küste landeten!«
»Die Myrmidonen geführt …?« Orlando überlief es eiskalt. Plötzlich gab ihm die gläserne Klarheit, mit der er alles sah, das unheimliche Gefühl, zu verschwimmen und sich aufzulösen, während alles andere fest blieb. »Ich? Du hast mich gesehen?«
»Du mußt es gewesen sein, mein König. Jedermann kennt deinen glänzenden bronzenen Panzer, deinen berühmten Schild, dein Schwert mit den silbernen Nägeln. Du mußt dich doch daran erinnern! Die Trojaner brachen sich
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