Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Ausspannen und Nachdenken geben. Als Sekretär, Haushälter, Koch und Chauffeur einer brillanten, kratzbürstigen, mit sich selbst beschäftigten alten Frau hatte er ein Arbeitspensum bewältigt, bei dem zwei jüngere Männer auf dem Zahnfleisch gegangen wären, aber Jeremiah war stolz auf seine Fähigkeit gewesen, alles mannhaft zu tragen, was das Leben (oder Susan Van Bleecks geringes Talent für Organisation und Pünktlichkeit) ihm auflud, und den Dampf seiner Frustration nur in kleinen Ausbrüchen schlechter Laune und gereizter Übereifrigkeit abzulassen. Er hatte sein Privatleben dafür aufgegeben, hatte die Kneipen- und Clubszene über so lange Zeiträume hinweg nicht frequentiert, daß er an den wenigen freien Abenden, die seine Mutter anderweitig beschäftigt war, nicht nur niemanden mehr kannte, sondern auch bei der Musik und der Mode draußen war, so als ob ein kompletter Generationswechsel stattgefunden hätte, als er gerade mal nicht hingeschaut hatte.
Doch auch wenn er kaum noch zu der Schwerarbeit bereit war, die es kostete, im Privatleben am Ball und im Gespräch zu bleiben, wenn er die Vor- und Nachteile abgewogen und sich mit einem zölibatären Leben ebenso wie mit der viel erschreckenderen Aussicht eines einsamen Lebensabends weitgehend abgefunden hatte, so hatte er doch seine Träume nicht völlig aufgegeben. In all den Jahren aufreibender Plackerei hatte ihm niemals etwas wirklich gefehlt außer Ruhe, Zeit zur Besinnung. Das war das schlimmste am mittleren Alter, hatte er gemerkt: Wenn man nicht aufpaßte, verflog das Leben in so halsbrecherischem Tempo, daß man sich am Ende eines Jahres eigentlich an nichts Besonderes erinnern konnte.
Und so hatte er sich in all den Jahren bei Susan nach ein wenig Zeit für sich selbst gesehnt, wirkliche Zeit und wirkliche Muße, nicht die eine Woche im Jahr, in der er mit seiner Mutter zu den Spielautomaten von Sun City fuhr (die sie liebte, während er auf eine kurze und diskrete Romanze hoffte, die sich auch tatsächlich ein paarmal ergeben hatte, nachdem Mama zu Bett gegangen war, eine nette Begegnung in einer Casinobar, von deren Erinnerung er das ganze restliche Jahr zehrte).
Jeremiah hatte sich so sehr gewünscht, einmal ungestört nachdenken und lesen zu können, wenigstens ein Stückchen von dem jungen Mann zurückzugewinnen, der er einmal gewesen war, von dem Gefühl, daß in der Welt leben gleichbedeutend sein sollte mit die Welt verändern. Was war aus den ganzen Büchern geworden, die er früher gelesen hatte, große Denker, afrikanische Geschichte, Sexualpolitik? In den Jahren in Kloof hatte er von Glück sagen können, wenn er die Zeit fand, sich die Verkehrsmeldungen anzuschauen und ab und zu ein Rezept herunterzuladen.
Und jetzt war der Traum nach all den Jahren auf diese höchst unerwartete Weise Wirklichkeit geworden. Er konnte lesen und denken, soviel er wollte, er hatte keine ablenkende Gesellschaft, und an seine Aufmerksamkeit wurden keine höheren Anforderungen gestellt, als auch ein vierjähriges Kind erfüllen konnte. Er hatte genau das, was er sich immer gewünscht hatte. Und er fand es unerträglich.
Jetzt, wo Long Joseph, tja, geflohen war, oder wie er es sonst nennen sollte, mußte Jeremiah viel öfter, als ihm lieb war, an die schreckliche Verantwortung denken, der einzige Mensch zu sein, der für Renies und !Xabbus Sicherheit zuständig war. Bis jetzt hatte es wenig Anlaß zur Sorge gegeben: Obwohl ihre Herzkurve mehrmals jäh emporgeschnellt war, hatte kein Wert je das funktionierende Warnsystem des Militärs aktiviert, und so mußte er annehmen, daß sie die normalen Höhen und Tiefen des virtuellen Daseins durchlebten. Nicht daß an alledem irgend etwas normal zu nennen war.
Das war natürlich nichts Neues. In seinen vielen Jahren als Doktor Van Bleecks Begleiter und Beschützer hatte die Verantwortung für ihre Sicherheit schwer auf ihm gelastet. In Durban hatte es mehrere Wellen gewaltsamer Autoentführungen gegeben, darunter ein Jahr lang den Terror einer Bande jugendlicher Raubmörder, die eiskalt Autofahrer umbrachten, nur damit sie einen bestimmten Kfz-Programmchip stehlen konnten, der damals auf dem Schwarzmarkt einen hohen Preis erzielte. Zweimal war Jeremiah in rasanten Verfolgungsjagden Überfällen entkommen, die ihm höchst bedrohlich erschienen waren, und einmal hatte er trotz sofortigen Durchstartens an einer Kreuzung eine ganze Weile noch drei Gangster an der Motorhaube hängen gehabt, die versuchten,
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