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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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schien es nicht eilig zu haben, vielleicht wollte er auch bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Wie auch immer, jedenfalls war Joseph am Anfang starr vor Entsetzen gewesen, hatte dann aber festgestellt, daß er einen derart hohen Grad von Angst nicht lange halten konnte. Nachdem er die Vorstellung, in Kürze zu sterben, ein paar dutzendmal innerlich durchgespielt hatte, versank er in eine Art Wachtraum.
    Is das so, wie Renie sich fühlt, da unten im Dunkeln? Er änderte seine Lage auf dem Wagenboden ein wenig, weil sein Rücken unangenehm durchgedrückt war. Der Mann mit dem Revolver stieß ihn an, aber mehr reflexhaft als drohend. Wenn ich sie doch bloß nochmal sehen könnte, bloß noch einmal. Ihr sagen, daß sie ’ne gute Tochter is, auch wenn sie mich genervt hat mit ihrem Gepester.
    Er dachte an Renies Mutter Miriam: die hatte ihn auch gepestert und ihn doch geliebt, daß es eine Wonne war. Einmal, als sie sich noch nicht lange kannten, hatte er sich nackt ausgezogen und auf der Wohnzimmercouch auf sie gewartet. Sie hatte gelacht, als sie hereinkam und ihn sah, und gesagt: Was soll ich mit ’nem Verrückten wie dir anfangen? Wenn ich jetzt meine Mutter dabeigehabt hätte, was dann?
    Tut mir echt leid, hatte er erwidert, aber du mußt ihr sagen, daß ich nich an ihr interessiert bin.
    Miriam war fast geplatzt vor Lachen. Als sie in jener Nacht zusammen auf den Laken gelegen hatten, weil der alte Ventilator kaum Bewegung in die heiße Luft im Zimmer brachte, hatte er ihr erklärt, daß sie ihn heiraten werde.
    Na, von mir aus, hatte sie geantwortet, und dabei hatte er hören können, wie sie dort im Dunkeln an seiner Seite grinste. Sonst hab ich wahrscheinlich sowieso keine Ruhe vor dir.
    Sie hatten Renie in demselben Bett gezeugt, und Stephen auch. Und Miriam hatte ihre letzte Nacht zuhause dort mit ihm geschlafen, die Nacht vor dem schrecklichen Tag, an dem sie nicht mehr aus dem Kaufhaus heimgekommen war. Das war die letzte Nacht gewesen, in der sie Bauch an Bauch zusammen lagen und sie ihm wie üblich ins Ohr schnarchte. Manchmal, wenn das Kopfweh ihn plagte, hatte ihn das fast wahnsinnig gemacht, und jetzt hätte er alles dafür gegeben, es noch einmal hören zu dürfen. Er hätte in ihren letzten Tagen neben ihr im Krankenhausbett geschlafen, aber ihre Verbrennungen waren zu schlimm. Sie wimmerte schon bei der leisesten Bewegung der Matratze, ja, wenn man bloß eine Zeitschrift neben ihren Arm legte.
    Verdammt, es is hundsgemein, dachte er und machte dann einen für ihn ungewöhnlichen Gedankensprung. Vor allem für die arme Renie. Erst die Mutter, dann der Bruder, und jetzt hat auch noch ihr saublöder Vater es geschafft, sich umbringen zu lassen, und sie hat gar niemand mehr. Er malte sich kurz eine Szene aus, wie der Wagen sein Ziel erreichte und er den überraschten Kidnappern mit einem blitzschnellen Gewaltspurt entfloh, aber die Unwahrscheinlichkeit war so groß, daß er nicht einmal in der Phantasie daran festhalten konnte. Nich mit diesen Typen, sagte er sich. Männer, die einen ganzen Wohnblock abfackeln, bloß damit eine wie Renie den Mund hält und sich nich einmischt, die machen bestimmt keinen Fehler …
    Unvermittelt bremste der Wagen ab und blieb dann stehen. Der Fahrer stellte den Motor aus. Long Josephs Körper wurde augenblicklich zu Eis – es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, sich nicht zu bepissen.
    »Ich fahr nicht mehr weiter«, sagte der Fahrer. Der Sitz zwischen ihnen dämpfte seine Stimme, so daß Long Joseph sich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. »Ist das klar?«
    Das war eine seltsame Bemerkung unter den Umständen, aber bevor Joseph darüber nachdenken konnte, gab der Mann mit dem Revolver einen grunzenden Laut von sich und drückte ihm die Mündung fest an den Hals. »Steh auf«, knurrte er Joseph an. »Und mach keine Dummheiten.«
    Orientierungslos mit dem dunklem Sack über dem Kopf gelang es Long Joseph schließlich, unsanft unterstützt von den beiden Gangstern, steif und schwerfällig aus dem Wagen zu krabbeln und sich auf die Beine zu stellen. Er hörte einen fernen Schrei, der wie in einer langen Straße hallte. Die Wagentür schlug zu, der Motor ging an, und das Auto rauschte davon.
    Jemand zog ihm den Sack vom Kopf und riß ihn dabei an den Haaren, so daß er unwillkürlich vor Schmerz und Schreck aufjaulte. Zuerst kam ihm die dunkle Straße mit der einen flackernden Laterne blendend hell vor. Hohe, mit Graffiti besprühte Mauern ragten zu beiden

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