Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
die teure splitterfeste Scheibe mit Montiereisen zu zertrümmern. Als der letzte der jungen Kriminellen auf die Straße gestürzt war und Jeremiah den Weg nach Hause einschlagen wollte, hatte die geschockte Susan ihn gebeten, sie statt dessen ins Krankenhaus zu fahren. Ihr Herz hatte dermaßen schnell gepockert, erzählte sie ihm später, daß sie sicher mit einem Herzstillstand gerechnet hatte.
Bei dem Gedanken daran überlief es ihn immer noch eiskalt. Es gab so viele Gefahren auf der Welt, so viele wahnsinnige, verzweifelte Leute!
Eine tiefere, schleichendere Kälte breitete sich in ihm aus, eine große Niedergeschlagenheit, bei der ihm fast übel wurde. Da stand er hier in dieser riesigen unterirdischen Festung und grämte sich, weil Susan beinahe einmal ein Unglück geschehen wäre, aber dachte gar nicht daran, daß ihr tatsächlich eines geschehen war und daß er als ihr Beschützer zuletzt so vollständig versagt hatte, wie man überhaupt nur versagen konnte. Männer waren ins Haus eingebrochen und hatten Susan Van Bleeck so furchtbar zusammengeschlagen, daß sie daran gestorben war. Nach all den Diensten, die Jeremiah ihr im Laufe der Jahre erwiesen hatte, den außerordentlichen wie den alltäglichen, war dies das klägliche Ende gewesen. Er hatte versäumt, sie zu beschützen, und die Verbrecher hatten sie umgebracht.
Und jetzt hatte man ihm die ganze Verantwortung für zwei weitere Leute aufgehalst, Leute, mit denen er nicht reden, die er nicht einmal sehen konnte. Aber wenn irgend etwas schiefging, wenn ihr Herz stehenblieb oder wenn eines Nachts, während Jeremiah schlief, jemand der Militärbasis den Strom abstellte, dann läge die Schuld an ihrem Tod trotzdem bei ihm.
Er hatte gute Lust, Renies Vater zu folgen, in die große Welt dort draußen zu fliehen und die Verantwortung jemand anders zu überlassen. Aber es war natürlich niemand anders da, was die Pflicht noch bedrückender, noch unausweichlicher machte.
Jeremiah war gerade dabei, diese Unmöglichkeiten zum x-ten Mal durchzuspielen – seit Long Josephs mitternächtlichem Verschwinden bewegten sich seine Gedanken in ziemlich engen, deprimierenden Kreisen –, als das Fon zum erstenmal klingelte.
Es war so ein vollkommen unerwarteter Ton, daß er zunächst nicht einmal wußte, was es war. Der antiquierte Telefonhörer, der auf seiner metallenen Gabel an der großen Betonsäule neben den Bedienerkonsolen hing, hatte seine anfängliche Kuriosität verloren und war längst einer von vielen Gegenständen in seinem Blickfeld geworden, etwas, das seine Aufmerksamkeit nur erregt hätte, wenn es plötzlich weg gewesen wäre, und auch dann wohl erst nach Tagen. Als das durchdringende Klingeln losging, ein metallisches Schnarren, wie er es vorher noch nie gehört hatte, begriff er erst beim fünften oder sechsten Mal, wo es herkam.
Sofort wurden jahrzehntelang trainierte Sekretärsreflexe wach, und einen Augenblick lang war er ernsthaft versucht dranzugehen – er sah sich förmlich den Hörer abnehmen und »Hallo?« sagen wie jemand aus einem historischen Film. Dann ging ihm die volle Tragweite der Sache auf, und er blieb starr vor Angst sitzen, bis das Klingeln aufhörte. Sein Puls hatte sich gerade wieder annähernd normalisiert, als das Klingeln von neuem begann.
Das Fon klingelte in der nächsten halben Stunde alle fünf Minuten, dann hörte es auf, endgültig, wie es schien.
Nachdem der Schreck einigermaßen abgeklungen war, wischte er das Ganze schließlich vom Tisch, ja, er mußte sogar über seine Reaktion schmunzeln. Offenbar hatten Martine und Singh die Telekomleitungen wieder angeschlossen, ansonsten hätte Long Joseph auch nicht ins Netz gekonnt, nicht einmal im reinen Empfangsmodus. Wenn es demnach eine funktionierende Leitung gab, konnten natürlich Anrufe durchkommen, auch versehentliche. Irgend jemand hatte eine Nummer aktiviert, die zufällig zum »Wespennest« gehörte, vielleicht ein Selbstwählgerät, oder er hatte sich schlicht verwählt. Es wäre natürlich idiotisch abzunehmen, doch selbst wenn er es täte, wäre es wahrscheinlich keine Katastrophe. Nicht daß er das Fon auch nur anfassen würde, falls es noch einmal schnarren sollte – Jeremiah war müde und bekümmert, aber nicht dumm.
Die Frage erschien ihm sehr viel weniger akademisch, als sich das Fon vier Stunden später abermals meldete, dann wieder eine halbe Stunde lang alle fünf Minuten klingelte, dann aufhörte. Dennoch geriet er nicht in Panik. Es war
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