Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Seiten auf. Fünfzig Meter weiter brannte ein Feuer in einer Metalltonne, umringt von einer kleinen Schar von Gestalten, die sich die Hände wärmten, aber bevor er auch nur daran denken konnte, ihnen zuzurufen, hatte er schon den Revolver im Rücken.
»Dreh dich um und geh los. Da durch.« Er wurde zu einem Eingang in einer der Mauern geschoben. Auf Anweisung des Killers zog Joseph die Tür auf und trat in einen stockfinsteren Raum. Alles in ihm krampfte sich zusammen, weil er sicher war, jede Sekunde eine Kugel in den Hinterkopf zu bekommen. Als etwas klickte, machte er einen Satz. Einen Moment später stellte er fest, daß er zwar noch am Leben, aber nunmehr endgültig außerstande war, seine Blase zu beherrschen. Er empfand eine absurde Befriedigung, daß er in den letzten paar Stunden nicht viel zu trinken gehabt hatte – wenigstens würde man ihm seine Feigheit nicht so sehr anmerken, wenn er starb.
Eine Neonröhre ging zuckend über ihm an. Er war in eine Werkstatt oder einen Lagerraum gebracht worden, leer bis auf ein paar Eimer Farbe und mehrere kaputte Stühle, eine Räumlichkeit, wie ein pleite gegangener Handwerker sie mieten mochte, um seine Gerätschaften so lange zu lagern, bis er sie verkaufen konnte. Joseph sah seinen langgestreckten Schatten auf dem Fußboden, daneben den seines Kidnappers.
»Dreh dich um!« befahl der Killer.
Long Joseph gehorchte zaghaft. Der Schwarze, der vor ihm stand, hatte einen Mantel an, der irgendwann einmal ziemlich edel gewesen sein mußte, aber jetzt genauso schmuddelig war wie das weiße Hemd, das er darunter trug. Seine Haare waren einmal modisch frisiert gewesen, aber in letzter Zeit nicht mehr geschnitten worden. Selbst Joseph, dessen Beobachtungsgabe rekordverdächtig schlecht war, merkte, daß der Mann nervös und durcheinander war, aber die Waffe in der Hand des Kerls bewog ihn, auf eine entsprechende Bemerkung zu verzichten. »Erkennst du mich?« fragte der Entführer.
Joseph schüttelte hilflos den Kopf – obwohl jetzt, wo der Mann es erwähnte, kam ihm irgendwas an dem Gesicht dunkel bekannt vor …
»Ich heiße Del Ray Chiume. Sagt dir das was?« Der Killer trat von einem Fuß auf den anderen.
Long Joseph zog die Stirn kraus, immer noch ängstlich, aber jetzt auch sinnierend. »Del Ray …?« Da ging ihm ein Licht auf. »Bist du nich mal mit meiner Tochter Renie gegangen?«
»Allerdings!« Der Mann lachte laut auf, als ob Joseph ihm in einem heiß umstrittenen Punkt endlich recht gegeben hätte. »Und weißt du auch, was deine Tochter gemacht hat? Hast du überhaupt die leiseste Ahnung?«
Joseph beobachtete, wie der Revolver auf und nieder ging, auf und nieder. »Ich hab keinen Schimmer, worum’s geht.«
»Mein Leben hat sie ruiniert, das hat sie gemacht.« Del Ray unterbrach sein Hin- und Herwippen, um sich mit dem Mantelärmel über die feuchte Stirn zu wischen. »Ich habe alles verloren, bloß weil deine Tochter keine Ruhe geben konnte.«
»Ich weiß nich, was du da redest.« Joseph nahm seinen ganzen Mut zusammen. »Wieso haste mich entführt? Willste mich umbringen, weil meine Tochter mit dir Schluß gemacht hat oder was?«
Del Ray lachte abermals auf. »Spinnst du? Spinnst du total, Alter? Das ist schon Jahre her. Ich bin längst verheiratet! Aber wegen deiner Tochter kann ich meine Ehe vergessen. Ich habe mein Haus verloren, alles. Und es ist alles ihre Schuld!«
Renie hatte offensichtlich einiges für sich behalten, fand Long Joseph. Und da hatte sie die Frechheit, an seinem Verhalten rumzukritisieren. Allmählich kam es ihm so vor, als hätte er gute Chancen, doch noch am Leben zu bleiben, und er war hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, gleich zusammenklappen zu müssen, und dem Wunsch, vor irrsinniger Freude laut loszubrüllen. Das hier war kein schwerer Junge. Long Joseph kannte die Sorte. Dieser Del Ray war so ein Geschäftstyp, einer von denen, die deinen Darlehensantrag mit höhnischem Grinsen ablehnen, aber dann, wenn es hart auf hart kommt und sie nicht mehr den großen Chef markieren können, keinen Mumm haben. »Also, willste mich jetzt erschießen oder was? Denn wenn nich, dann steck die verdammte Knarre weg und fuchtel nich damit in der Gegend rum wie so’n Mafiakiller.«
»Killer!« Del Rays Lachen war theatralisch bitter. »Du hast ja keinen blassen Dunst, Alter. Ich habe die verfluchten Killer erlebt. Sie sind gekommen und haben mich ins Gebet genommen – das war, bevor sie mir das Haus angezündet haben. Einer
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