Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
wissen«, sagte Martine leise zu Renie. »Er und ich haben uns neulich, als wir noch getrennt waren, irgendwie … berührt, aber das war dank des Gateways, das durch das Instrument der Bruderschaft bereits geöffnet worden war. Beide können wir nicht mit Worten ausdrücken, was wir empfunden, was wir erfahren haben. Wir sind wie zwei Wissenschaftler, die keine gemeinsame Sprache haben – die Kluft ist zu groß, wir können uns unsere Entdeckungen darüber hinweg einfach nicht mitteilen.«
Florimel schüttelte resigniert den Kopf. »Wir sollten schlafen. Wenn es beim Aufwachen immer noch dunkel ist, werde ich versuchen, mehr Brennholz aufzutreiben.«
Renie sah zu T4b hinüber, der schon schlief, nachdem Erschöpfung und Erschütterung schließlich über das Adrenalin gesiegt hatten; auch Emily hatte sich in die Bewußtlosigkeit geflüchtet. Sie hätte gern etwas Optimistisches gesagt, doch ihr fiel nichts ein; sie wagte nicht daran zu denken, was geschehen konnte, wenn sie das Gateway nicht wieder geöffnet bekamen. Eine Welle des Unglücks und der Angst durchströmte sie. Schlimmer noch war der niedergeschmetterte Anblick, den ihr Freund !Xabbu bot. Mit vorsichtigen Schritten begab sie sich über den wenig vertrauenerweckenden Boden zu ihm. Als sie neben ihm stand, wußte sie immer noch nichts Hilfreiches zu sagen, und so setzte sie sich einfach neben ihn und ergriff seine kleine Hand.
Nach langem Schweigen sagte !Xabbu unvermittelt: »Vor vielen, vielen Jahren gab es einen anderen mit meinem Namen. Er gehörte meinem Volk an, und genau wie meine Eltern mich, so nannten auch seine ihn ›Traum‹, nach dem Traum, der uns träumt.« Er hielt inne, wie um Renie etwas erwidern zu lassen, aber sie fühlte nur einen schmerzhaften Druck ums Herz und traute sich nicht, etwas zu sagen.
»Er saß im Gefängnis, genau wie mein Vater«, fuhr !Xabbu fort. »Ich kenne seine Worte nicht aus den Erinnerungen meines Volkes, sondern weil er einen der wenigen Europäer kennenlernte, die die Sitten und Gebräuche meines Volkes studierten. Eines Tages fragte dieser weiße Forscher meinen Namensvetter, warum er die ganze Zeit so unglücklich sei, warum er immer nur still dasitze, das Gesicht im Schatten. Und der Mann namens Traum antwortete ihm: ›Ich warte darauf, daß der Mond mir wiederkehrt, damit ich an die Stätte meiner Leute zurückkehren und ihre Geschichten hören kann.‹
Zuerst dachte der Forscher, Traum spräche davon, zu seinen Angehörigen zurückzukommen, und er fragte ihn, wo sie wohnten, aber Traum sagte: ›Ich warte auf die Geschichten, die aus der Ferne kommen, denn eine Geschichte ist wie der Wind – sie kommt von weither, und wir fühlen sie. Die Leute hier besitzen meine Geschichten nicht. Sie sprechen nicht so, daß es zu mir spricht. Ich warte, bis ich auf meinem Weg umkehren kann, bis der Mond mir wiederkehrt, und ich hoffe darauf, daß jemand hinter mir auf dem Weg, jemand, der meine Geschichten kennt, eine Geschichte erzählt, die ich auf dem Wind hören kann – daß ich im Zuhören auf dem Weg umkehren kann … und daß mein Herz den Weg nach Hause findet.‹
So empfinde ich auch, Renie, genauso wie dieser Mann namens Traum empfand. Beim Tanzen ging mir auf, daß ich nicht versuchen sollte, zu sein, was ich nicht bin, sondern daß ich handeln muß, wie meine Leute handeln, denken muß, wie meine Leute denken. Aber das hat mich einsam gemacht. Diese Welt ist anscheinend kein Ort, wo ich die Geschichten verstehe, Renie.« Mit gesenkten Augen schüttelte er langsam den Kopf.
Seine Worten trafen sie ins Herz. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Du hast Freunde in dieser Welt«, brachte sie zögernd über die Lippen. »Menschen, die sich sehr viel aus dir machen.«
Er drückte ihre Hand. »Ich weiß. Aber selbst die Freunde meines Herzens können den größeren Hunger nicht immer stillen.«
Wieder trat ein langes Schweigen ein. Renie hörte, wie Martine und Florimel sich ein paar Meter weiter leise unterhielten, aber die Worte erschienen ihr bedeutungslos, so sehr wünschte sie sich, den Kummer des kleinen Mannes mit irgend etwas lindern zu können. »Ich … ich liebe dich, !Xabbu «, sagte sie schließlich. Nackt und ungeschützt hingen die Worte im Raum. Sie wußte nicht, was sie damit meinte, und hatte auf einmal vor etwas Angst, das sie nicht genau benennen konnte. »Du bist mein bester und engster Freund.«
Er lehnte seinen haarigen Kopf an ihre Schulter. »Ich liebe dich auch, Renie.
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