Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
Selbst die schärfsten Schmerzen meines Herzens werden weniger, wenn du und ich zusammen sind.«
Die Situation erschien Renie heikel. Er hatte es so ruhig hingenommen, so nüchtern, daß sie beinahe gekränkt war, obwohl sie sich selbst nicht sicher war, wie sie das bedeutungsschwere Wort gemeint hatte. Aber was er damit meint, weiß ich auch nicht, erkannte sie. Wir sind so unterschiedlicher Herkunft, in gewisser Weise kennen wir uns noch kaum. Verlegen ließ sie seine Hand los und faßte nach dem rauhen Ding, das an ihrem Handgelenk gescheuert hatte. »Was ist das?«
»Meine Schnur.« Er lachte leise und knüpfte sie auf. »Dein Schnürsenkel, meine ich, den du mir gegeben hast. Ein kostbares Geschenk.« Seine Stimmung hatte sich aufgeheitert, oder wenigstens tat er aus Rücksicht auf sie so. »Möchtest du sehen, wie ich noch eine Geschichte damit erzähle? Wir können ans Feuer gehen, wo du etwas siehst.«
»Später vielleicht«, sagte sie. Sie hoffte, daß ihn das nicht beleidigte. »Ich bin müde, !Xabbu . Aber die Geschichten, die du neulich damit erzählt hast, haben mir sehr gut gefallen.«
»Es kann noch andere Sachen. Oho, es ist ein kluges Stück Schnur! Ich kann damit zählen und noch schwierigere Sachen machen. In mancher Hinsicht, weißt du, kann das Fadenspiel wie ein Abakus sein und viele komplizierte Gedanken wiedergeben …« Er verstummte.
Renie war innerlich so mit dieser jüngsten verwirrenden Szene zwischen ihnen beiden beschäftigt, daß sie !Xabbus Geistesabwesenheit eine Weile gar nicht registrierte. Es dauerte noch länger, bis sie plötzlich begriff, worüber er nachdachte. »Mensch, !Xabbu , könntest du es dafür benutzen? Wäre das eine Möglichkeit?«
Er sprang bereits auf allen vieren zurück zum Feuer, offenbar fiel ihm in der Eile die tierische Fortbewegungsart leichter. Sie beschlich eine leichte Besorgnis angesichts seiner zunehmenden Gewöhnung an Pavianbewegungen, doch die gefährlich aufwallende Hoffnung verdrängte alles andere.
»Martine«, sagte er, »streck deine Hände aus. Ja, so.«
Ein wenig verdutzt ließ die Blinde es geschehen, daß er ihre Hände nahm und die Innenflächen einander zukehrte, Finger ausgestreckt. Er schlang geschickt den Schnürsenkel darüber, schob dann seinerseits die Finger in die Schlinge und bewegte sie flink. »Diese Figur heißt ›die Sonne‹, die Sonne am Himmel. Verstehst du?«
Martine nickte langsam.
»Und schau, hier ist ›die Nacht‹. So, und dies bedeutet ›fern‹ und dies … ›nahe‹. Ja?«
Jeder andere, glaubte Renie sicher, hätte ihn gefragt, was der Blödsinn solle, aber Martine blieb lediglich einen Moment lang mit konsterniertem Gesicht still sitzen und bat ihn dann, es noch einmal langsamer zu machen. Er tat es und zeigte ihr dann Figur um Figur. Seine Hände spielten eine Reihe einfacher Bilder durch, aber Renie kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß dies erst der Anfang war – die Grundelemente des Fadenspiels.
Nachdem ungefähr zwei Stunden vergangen waren, hörte !Xabbu auf zu reden. Martine war schon eine ganze Weile vorher verstummt. Florimel und Renie stocherten abwechselnd die Überreste des Feuers auf, aber mehr, um sich selbst zu beschäftigen, als weil !Xabbu oder Martine dessen bedurft hätten. Bis auf ein gelegentliches Fingerwackeln, wenn sie etwas nicht verstand, oder eine sanfte Berührung von ihm, wenn sie einen Fehler gemacht hatte, kommunizierten die beiden jetzt ausschließlich durch die Schnur.
Renie erwachte aus einem flachen Schlummer; Traumbilder von Netzen und Zäunen, die aus irgendeinem Grund Sachen durchließen, statt sie zu halten, liefen noch in ihrem Gehirn ab. Sie konnte zuerst nicht verstehen, woher das gelbe Licht kam.
Ist die Sonne wieder da …? war der erste kohärente Gedanke, der ihr durch den Kopf ging. Dann begriff sie, was sie da sah. Mit jagendem Herzen sprang sie auf und weckte hastig Florimel. Martine und !Xabbu saßen sich mit geschlossenen Augen auf dem Boden gegenüber, vollkommen regungslos bis auf die Finger, die sich jetzt sehr langsam in dem Fadengespinst bewegten, als nähmen sie nur noch ganz winzige Korrekturen vor.
»Steht auf!« schrie Renie. »Es ist das Gateway, das Gateway!«
T4b und Emily rieben sich erschrocken die verschlafenen Augen. Renie hielt sich nicht mit Erklärungen auf, sondern zerrte sie auf die Füße; mit Florimels Hilfe schob sie die beiden zu dem schimmernden Rechteck aus kaltem Feuer hin, bevor sie Martine und !Xabbu
Weitere Kostenlose Bücher