Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
er von den mit Olivenbäumen bestandenen Hängen und der fernen Stadt sehen konnte, der stille Friede der ganzen Szene, ließ ihm Tränen in die Augen treten. Er verfluchte sich für seine Waschlappigkeit – seit seinem überstürzten Aufbruch von Ithaka war erst ein Tag vergangen –, konnte aber nicht leugnen, daß ihm ein Riesenstein vom Herzen fiel.
Die Flut schwemmte ihn knapp an einer großen Klippe vorbei, die ein paar hundert Meter vor der freundlichen Küste im Meer stand, und als das Hindernis passiert war, erblickte Paul mit Staunen und Freude menschliche Gestalten am Strand – junge Frauen, wie es aussah, schlank und klein, deren üppige schwarze Haare und helle Kleider flatterten, während sie mit den Schritten irgendeines Spieles oder Tanzes beschäftigt waren. Er wollte ihnen gerade zurufen, damit sie nicht erschraken und wegliefen, wenn er unversehens angespült wurde, als sich plötzlich eine Wolke vor die Sonne wälzte und alles, Berg, Strand und Meer, verdunkelte. Die Mädchen unterbrachen ihr Spiel und sahen auf, und im nächsten Moment rollte ein brutaler Donnerschlag über den Himmel, so daß sie schutzsuchend auf einige Höhlen über den Felsenbecken zuliefen.
Paul blieb zum Wundern nur ein kurzer Augenblick – eine Minute vorher war der Himmel noch völlig klar gewesen –, da fegten auch schon schwarze Gewitterwolken über ihn hinweg, tauchten die Welt in ein brodelndes Grau und schütteten Regentropfen aus, die sich hart wie Kiesel anfühlten. Der Wind blies jählings auf und brachte die Wellenkämme zum Schäumen. Paul wurde mit seiner Spiere von einem Strömungswechsel zur Seite gerissen, so daß er erst parallel zum Strand und dann davon fort schwamm, und alles Paddeln und wütende Schimpfen auf den grollenden Himmel konnte nichts daran ändern, daß er wieder aufs offene Meer hinausbefördert wurde. Bald war die Insel hinter ihm verschwunden. Unter dem Donner konnte er das Gelächter Poseidons wie den tiefsten Baßpedalton einer Kirchenorgel hören.
Als das Gewitter abflaute, war er wieder in der Wasserwüste. Die kurze Hoffnung und ihre gemeine Vereitelung erschienen ihm rückblickend so natürlich und so passend zu allem anderen, was ihm widerfahren war, daß er sich sogar schwertat, Empörung zu empfinden. Auf jeden Fall hatte er kaum mehr Kraft für etwas anderes übrig, als sich an die Spiere zu klammern, auch wenn ihm das mehr denn je als bloßes Hinauszögern des Unvermeidlichen vorkam.
Ich weiß nicht, was ich getan habe, aber es kann gar kein so gräßliches Verbrechen geben, daß ich eine derartige Bestrafung verdient hätte.
Er hatte arge Krämpfe in den Fingern, und obgleich er seine Position laufend änderte, verringerte das seine Schmerzen nicht. Mit jedem neuen Sturz kalten, salzigen Wassers, jedem jähen Auf und Ab in den Wellen fühlte er, wie sein Griff schwächer wurde.
»Hilf mir!« schrie er Seewasser spuckend zum Himmel auf. »Ich weiß nicht, was ich verbrochen habe, aber es tut mir leid! Hilf mir! Ich will nicht sterben!«
Als das Holz seinen tauben Fingern entglitt, beruhigte sich plötzlich die See um ihn herum. Eine Gestalt schimmerte auf, ätherisch und doch unverkennbar mit dem hauchzarten Umriß der großen Flügel, die ihre über den besänftigten Wellen schwebende Erscheinung in eine Wolke aus flirrendem Licht hüllten. Er starrte sie fassungslos an, nicht ganz sicher, ob er in Wirklichkeit nicht schon losgelassen hatte, ob dies nicht nur die letzte betörende Vision war, die einem Ertrinkenden gewährt wurde.
»Paul Jonas.« Ihre Stimme klang leise und traurig. »Ich gehöre hier nicht her. Es … tut mir weh, hier zu sein. Warum kommst du nicht zu uns?«
»Ich weiß nicht, was das alles heißen soll!« stieß er hervor, wobei er mühsam die Tränen der Wut zurückhielt. Trotz der Stillung der Wellen waren seine Hände immer noch verkrampft. »Wer bist du? Wer ist ›wir‹? Wie kann ich zu euch kommen, wenn ich nicht weiß, wo ihr seid?«
Sie schüttelte den Kopf. Ein Sonnenstrahl durchdrang sie, als ob sie eine gläserne Vase wäre. »Ich weiß die Antworten auf diese Fragen nicht, und ich weiß nicht, warum ich sie nicht weiß. Ich weiß nur, daß ich dich in der Dunkelheit fühle. Ich weiß nur, daß ich dich brauche, daß mein ganzes Wesen nach dir ruft. Ideen, Worte, zerbrochene Bilder – viel mehr gibt es nicht.«
»Ich werde hier sterben«, erwiderte er mit erschöpfter Bitterkeit. Er rutschte ab und schluckte Salzwasser, dann
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