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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Goldschicht auf der Oberfläche der Wellen. Er war weiter dazu verdammt, auf dem Meer zu treiben. Seine Enttäuschung währte nur kurz: Als seine Augen sich an den grellen Schein gewöhnt hatten, sah er die Insel.
    Es war eine andere, nicht die weite, bergige Küste, von der der Sturm ihn abgetrieben hatte, sondern ein kleiner, bewaldeter Felsen, einsam in der Weite der dunkel werdenden See. Er paddelte darauf zu, zunächst behindert von dem langen Tuch, das ihn an die Spiere fesselte, aber dann mit zunehmendem Elan. Er bekam einen panischen Schrecken, als vor ihm auf einmal die spitzen Klippen der Küste aus dem Wasser ragten wie beim Anblick der Gorgo versteinerte Schiffe, aber ein gütiges Schicksal oder etwas Komplizierteres sandte ihm eine günstige Strömung, die ihn unbeschadet daran vorbei trug. Bald fühlte er rauhen Sand unter den Füßen und schaffte es, sich an den Strand zu schleifen. Obwohl er am ganzen Leib zitterte und seine Finger so kalt und steif waren, daß es Tierpranken hätten sein können, fummelte er den Knoten auf und schlang sich den Schleier mit dem Federzeichen um den Hals, dann kroch er an einen Platz, wo der Sand weiß und trocken war, und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
     
    Es war die Nymphe Kalypso, die ihn weckte.
    Als sie mit dem Morgenlicht im Rücken vor ihm stand und ihre schwarzen Haare so sanft im Wind spielten wie Seetang in einer Meeresströmung, dachte er zuerst, die Vogelfrau sei zurückgekehrt. Als er Kalypsos atemberaubende, marmorne Schönheit erblickte und begriff, daß dies nicht die Erscheinung aus seinen Träumen war, war er sowohl enttäuscht als auch erleichtert.
    Am ganzen Leib von einer feinen Sandkruste überzogen rappelte er sich auf ihr Winken hin auf und folgte ihr. Sie führte ihn durch Wiesen voller Schwertlilien und sang dabei ein Lied von so unglaublicher Lieblichkeit und Vollkommenheit, daß es ganz und gar unwirklich klang.
    Ihre Grotte war eingebettet in einen Erlen- und Zypressenhain, der Eingang von Wein umrankt. Der Klang fließenden Wassers gesellte sich zu ihrem Gesang, und die beiden Melodien, das kristallklare Tönen silberner Quellen und das Lied der weichen, reinen Stimme, verbanden sich und lullten ihn in einen Wachschlaf, so daß er eine Weile überlegte, ob er am Ende doch ertrunken und in einem himmlischen Paradies gelandet war.
    Sie reichte ihm Ambrosia und süßen Nektar, die Speise der Unsterblichen, und er aß und trank, obwohl ihr Singen ihm beinahe schon Stärkung genug war. Als sie ihn mit langen, kühlen Fingern berührte und ihn erst zu den Quellen führte, um ihm dort das Salz von der Haut zu waschen, und dann in die tieferen Schattenregionen der Grotte zu ihrem Bett weicher Binsen, sträubte er sich nicht. Ein Teil von ihm wußte, daß er untreu war, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, wem, aber er war so lange einsam gewesen, so einsam, wie kein Mensch sein sollte, und seine Seele war ausgehungert. Und als nach der langen Zeit geflüsterter Worte und perlender Schweißtropfen, in der das ferne Rauschen des Meeres den rhythmischen Hintergrund zu ihrem sich steigernden Stöhnen bildete, Paul aufschrie und sich vergehen fühlte, da wollte er nicht danach fragen, in was für eine Leere, was für eine Illusion er sich verströmte.
    Er konnte die wohltuende Zuwendung nicht zurückweisen, einerlei, was dahinter liegen mochte.
     
     
    > »Du bist traurig, kluger Odysseus. Was quält dich?«
    Er drehte sich um und sah sie mit wallenden Haaren über den Strand gleiten. Er wandte sich wieder seiner Betrachtung des endlos anrollenden abendlichen Meeres zu. »Nichts. Mir geht’s gut.«
    »Dennoch ist dir das Herz schwer. Komm mit zur Grotte und besteige mit mir das Lager der Liebe, o holder Sterblicher, oder wenn du willst, bleiben wir hier und betten uns auf den weichen, duftenden Sand.« Sie strich mit einer kühlen Hand über seine sonnengebräunten Schultern und ließ dann ihre Finger nach unten wandern.
    Paul mußte ein Schütteln unterdrücken. Eigentlich war nichts daran auszusetzen, auf einer paradiesischen Insel mit einer wunderschönen Göttin gestrandet zu sein, die ihm jeden Wunsch von den Augen ablas und ein halbes dutzendmal am Tag mit ihm schlafen wollte, aber obwohl ihm die Gelegenheit, sich auszuruhen und verwöhnen zu lassen, willkommen gewesen war, tat ihm dennoch das Herz weh, und auch andere Teile litten allmählich ein wenig. Wer diesen Abschnitt der virtuellen Odyssee erfunden hatte – der mindestens

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