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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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zog er sich hoch, bis er die Spiere wieder unter dem Kinn hatte. »Also setz nicht zu hohe Hoffnungen … auf mich.«
    »Wo ist die Feder, Paul?« Sie fragte es, als stellte sie ein Kind zur Rede, das seine Schuhe oder seine Jacke verloren hatte. »Ich habe sie dir zweimal gegeben. Sie sollte dir helfen, den Weg zu finden, dich schützen – dich vielleicht sogar durch die Schatten des Einen, der Anders ist, führen.«
    »Die Feder?« Er war sprachlos. Es war, als wäre ihm eröffnet worden, sein Universitätsexamen hänge davon ab, daß er den Bleistift wiederfand, den er am Tag der Einschulung bekommen hatte. Er überlegte angestrengt. An die erste Feder konnte er sich kaum mehr erinnern – sie war so fern wie ein Gegenstand in einem Traum. Er nahm an, daß sie irgendwo auf dem Mars verlorengegangen war, vielleicht auch schon früher. Die zweite, die ihm der kranke Neandertalerjunge in die Hand gepreßt hatte, war vermutlich in der Höhle des Menschenvolks liegengeblieben. »Ich wußte nicht … Woher hätte ich wissen sollen …?«
    »Du mußt wissen, daß ich sie dir nur dreimal geben kann«, erklärte sie feierlich. »Du mußt das wissen, Paul.«
    »Woher denn? Ich verstehe nichts von alledem! Du redest, als ob das ein Märchen wäre …«
    Sie gab keine Antwort, sondern holte etwas aus den Nebeln ihrer gespenstischen Erscheinung hervor. Die Meeresbrise riß es ihr aus den Fingern, aber Paul bekam es zu fassen, als es vorbeiflatterte. Es war ein Tuch oder Schleier, zart wie Spinnweben und mit einem schwach schimmernden Glanz. Eingewoben war eine stilisierte Feder in leuchtenden Grün- und Blautönen und anderen Farben, die mit dem Wechsel des Lichts changierten. Er starrte das Gewebe begriffsstutzig an.
    »Es kann dir helfen«, sagte sie. »Aber du mußt bald zu uns kommen, Paul. Ich kann hier nicht bleiben – es tut weh. Komm schnell! Es wird immer schwerer, dich durch die dichter werdende Düsternis aufzusuchen, und ich habe Angst.«
    Bei diesen trostlosen Worten sah er auf und begegnete dem Blick ihrer dunklen Augen, dem einzigen an ihrer ganzen nebulösen Gestalt, das einen vollkommen realen Eindruck machte. Der Himmel verfinsterte sich wieder. Gleich darauf erblickte er an ihrer Stelle jemand anders – dieselbe Frau, aber jünger und auf eine Art gekleidet, die deutlich Jahrtausende später als das Homerische Griechenland war und dennoch irgendwie altmodisch wirkte. Bei ihrem Anblick – Locken, die mit der Jacke und dem langen dunklen Rock geradezu verschmolzen, die einfache weiße Bluse, die ihr kummervolles Gesicht noch betonte – erschrak er so tief, daß er beinahe wieder von der treibenden Spiere geglitten wäre. Diese Vision von ihr war so anders, so unwirklich und doch in einer Weise wirklich wie keine zuvor, daß er einen Moment lang das Atmen vergaß.
    Noch ein paar heftige Herzschläge rasten durch seine Brust, indessen sie, diese qualvoll vertraute Fremde, ihn mit einem Ausdruck tiefer, ohnmächtiger Sehnsucht ansah. Dann war sie fort, und er war wieder allein auf dem weiten Meer.
     
    In einem letzten klaren Moment, bevor Müdigkeit und Elend und Verwirrung ihn wieder überwältigen, band Paul sich mit dem Tuch an der Spiere fest, indem er es unter den Armen durchzog und dann plump verknotete. Was es auch sonst noch sein oder darstellen mochte, es war jedenfalls solide genug, um ihm das Leben zu retten. Mit qualvoll gezerrten Armmuskeln ließ er endlich das Maststück los.
    Von den Wellen gewiegt schlief er immer wieder kurz ein, aber die Träume, die ihm kamen, waren viel schärfer und klarer als vorher und anfangs schmerzlich bekannt – ein Wald staubiger Pflanzen, das krachende Wüten eines Maschinenriesen, das endlose, herzzerreißende Lied eines eingesperrten Vogels. Doch diesmal liefen noch andere unheimliche Fäden durch das Traumgewebe, nie zuvor geträumte beziehungsweise erinnerte Dinge, die ihn in seinem Halbschlaf zusammenzucken ließen. Das Schloß des Riesen umgab ihn wie ein lebendiges Wesen, und von jeder Wand blickte ein starres, unbewegtes Auge. Eine Wolke von schlagenden Flügeln hüllte ihn ein, als ob die Luft selbst zu brausendem Leben erwacht wäre. Das letzte Geräusch, das ihn aus der Dunkelheit aufschreckte, war das laut krachende Splittern von Glas.
    Bis zum Kinn im kalten Seewasser hängend schüttelte Paul sich den Kopf frei und hörte gerade noch das ferne Rumpeln des Donners verhallen. Die untergehende Sonne schien ihm in die Augen, eine breite, blendende

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