Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas
breitete seine Hände in einer Geste der Ergebenheit aus. »Das Leben ist etwas Wunderbares – erst wenn wir vor lauter Arbeit nicht mehr dazu kommen, es zu leben, vergessen wir das manchmal.«
Jongleur lächelte wieder. Jiun mochte nur wenig mehr als halb so alt sein wie er, aber er war gewiß kein Dummkopf. Jiun fragte sich, ob Jongleur jetzt, am kritischsten Punkt, seiner Aufgabe gewachsen war, und brachte sowohl das Thema implizit zur Sprache als auch dezent seine Meinung zum Ausdruck, daß er die raffgierigen Amerikaner nicht besonders sympathisch fand. »Gerade bei solchen Gelegenheiten wie jetzt wird mir wieder bewußt, warum wir dieses Projekt einst vor vielen Jahren begonnen haben, alter Freund«, entgegnete Jongleur vorsichtig. »In ruhigen Momenten, wenn wir dankbar genießen können, was wir besitzen und was wir geschaffen haben.«
»Es tut gut, einen solchen Moment mit dir zu teilen. Wie ich schon sagte, dieser Besuch ist eine große Ehre.« Jiun tat so, als ob er den Besuch nicht praktisch verlangt hätte, wenn auch in das Mäntelchen höflicher Anregung gekleidet. »Darf ich dir eine Erfrischung anbieten?«
Jongleur winkte ab. »Zu gütig. Nein, vielen Dank. Ich dachte mir, du wüßtest vielleicht gern, daß ich morgen, wenn wir uns mit der restlichen Bruderschaft treffen, einen Termin für die Zeremonie bekanntgeben werde. Bis zum letzten Schritt – oder zum wahren Anfang, könnte man genausogut sagen – sind es nur noch wenige Tage.«
»Ah.« Jiun Bhaos Augen waren trügerisch mild, aber selbst diese Simulation seines Gesichts war ein Wunder an subtiler Ausdrucksfähigkeit. Es gab Gerüchte, wonach er in früheren Zeiten ohne ein Wort die Ermordung von Konkurrenten befohlen und nur mit einem Blick müder Einwilligung das Todesurteil besiegelt hatte. »Wundervolle Neuigkeiten. Darf ich dann annehmen, daß die … Unregelmäßigkeiten des Betriebssystems nunmehr der Vergangenheit angehören?«
Jongleur schnippte nicht vorhandene Fusseln von seinem virtuellen Anzug, um einen Moment Bedenkzeit zu gewinnen. »Es wird noch an ein oder zwei Details gearbeitet, aber ich versichere dir, daß sie für das Gelingen der Zeremonie keinerlei Bedeutung haben.«
»Das ist gut zu hören.« Jiun nickte langsam. »Ich bin sicher, die übrige Bruderschaft wird sich ebenfalls über deine Ankündigung freuen. Sogar Herr Wells.«
»Ja, natürlich. Er und ich haben unsere Meinungsverschiedenheiten«, sagte Jongleur und mußte dabei innerlich grinsen, wie die Gesellschaft und die Umgebung einen fast automatisch zu höflichen Untertreibungen nötigten, »aber wir haben dennoch ein gemeinsames Ziel. Jetzt sind wir soweit, dieses Ziel zu erreichen.«
Sein Gastgeber nickte abermals. Nach einem Schweigen, während dessen Jongleur mehrere kleine Fische beobachtete, die unter der gekräuselten Wasseroberfläche des Brunnens schattenhaft dahinhuschten, sagte Jiun: »Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten, alter Freund. Zweifellos eine Zumutung, aber ich würde dich bitten, darüber nachzudenken.«
»Bitte, sprich.«
»Ich bin am Gralsprozeß selbst außerordentlich interessiert, wie du weißt, und zwar vom ersten Tag an, als du mir von deinen Forschungen erzähltest – erinnerst du dich noch? Es ist erstaunlich, wenn man bedenkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.«
Jongleur erinnerte sich nur zu gut daran – Jiun Bhao und sein asiatisches Konsortium waren eine ausschlaggebende Hürde bei der Startfinanzierung gewesen; hinter der Fassade höflicher Diskussion waren die Verhandlungen noch brutaler geführt worden als normalerweise. »Natürlich.«
»Dann wirst du meinen Wunsch verstehen. Da die Zeremonie so eine prachtvolle, ja einmalige Gelegenheit ist, möchte ich dich um das Privileg des Beobachterpostens bitten.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht.«
»Ich möchte gern der letzte sein. Damit ich mir unsere Leistung in ihrer ganzen Großartigkeit zu Gemüte führen kann, bevor sie sich an mir selbst verwirklicht. Andernfalls wird meine Aufregung mit Sicherheit so groß sein, daß es mir hinterher um all die Details leid tun wird, die mir entgangen sind.«
Einen Moment lang war Jongleur aus dem Gleichgewicht gebracht. Argwöhnte Jiun irgendein falsches Spiel? Oder – und der Gedanke war wirklich beunruhigend – wußte der chinesische Magnat mit seinen unerschöpflichen Mitteln irgend etwas, das selbst Jongleur verborgen geblieben war? Aber wenn er zögerte, konnte das einen eventuellen Argwohn bei
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