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Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas

Titel: Otherland 3: Berg aus schwarzem Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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haben wir sonst nie viel länger als die Hälfte der Zeit laufen lassen.«
    »Wie sind die anderen Indikatoren?«
    Der Priester wußte nicht so recht, wie er respektvoll mit den Achseln zucken sollte, und machte schließlich eine Bewegung, die nach einem leichten Schüttelkrampf aussah. »Sie sind … weitgehend normal, o Herr. Alles läuft reibungslos. Es hat ein paar kleine Perturbationen gegeben, aber nicht heftiger als in den ganzen letzten Monaten. Aber dieser K-Zyklus, Herr …«
    Jongleur wurde plötzlich von einem irrationalen Schrecken davor erfaßt, dieser untere Charge könnte den momentanen Sim des sterblichen Mannes im weißen Maßanzug sehen, aber eine rasche Überprüfung bestätigte ihm, daß der Priester die volle Herrlichkeit des Osiris erlebte. »Ja, ja, die Länge des Zyklus ist ungewöhnlich. Aber die Zeremonie steht vor der Tür, und damit wird das System in vieler Hinsicht außergewöhnlich beansprucht. Behalte die Indikatoren im Auge, und sage Bescheid, falls sich irgend etwas drastisch verändert. Aber wenn es nicht gerade einen totalen Meltdown gibt, will ich in der nächsten Stunde in keiner Weise gestört werden. Ist das absolut klar?«
    Die Augen des Priester-Ingenieurs weiteten sich. »Ja, Herr. Hab Dank, o Gott, der du der Erde das Getreide entsprießen läßt …«
    Jongleur kappte die Verbindung, als der Mann die ersten Verse des Ergebenen Abschiedsdankes anstimmte.
     
    Eines mußte Jongleur seinem Gralsbruder lassen – Jiun Bhao hatte ganz zweifellos Stil. Sein virtueller Wohnsitz hatte nichts von dem Prunk, in dem andere Mitglieder der Bruderschaft sich ergingen, keine Spur von Märchenschloß auf schwindelerregend steilen Felsen, keine exzessiven Manieriertheiten (meistens begleitet von einem genauso exzessiven Mangel an Manieren). Aber es gab auch keine falsche Bescheidenheit: Der Knoten des Finanziers präsentierte sich als elegante Komposition breiter heller Wände und raffiniert verlegter Bodenplatten mit ungewöhnlichen dunklen Akzentlinien, die das Auge fesselten, wenn der Blick darauf fiel. Hier und da war mit scheinbarer Absichtslosigkeit ein Kunstwerk hingestellt worden – die zart bemalte Doucai-Porzellanfigur eines Wasserträgers, die drollige Bronze eines Bären mit Maulkorb, der eine Frucht zu fressen versucht –, aber insgesamt dominierte der Eindruck von klaren Linien und Raum. Selbst Licht und Schatten waren kunstvoll eingesetzt, so daß man die Höhe der Decken oder die Länge der abgehenden Korridore zunächst einmal nicht abschätzen konnte.
    Passend zu der unauffälligen Eleganz seines Hauses trug Jiun Bhao einen Sim im grauen Anzug, der seinem wirklichen Zustand als gut erhaltener Neunzigjähriger entsprach. So wie er jetzt im zentralen Hof erschien und auf Jongleur zukam, hätten sie zwei gepflegte Großväter sein können, die sich im Park trafen. Keiner streckte die Hand aus. Es gab keine Verbeugung. Die prekäre Natur ihrer Beziehung enthob sie der Notwendigkeit solcher Gesten.
    »Du erweist mir eine große Ehre, mein Freund.« Jiun Bhao deutete auf zwei Sessel, die neben einem murmelnden Brunnen bereitstanden. »Bitte, setzen wir uns und reden.«
    Jongleur lächelte und nickte. »Die Ehre ist ganz meinerseits – mein letzter Besuch bei dir liegt schon zu lange zurück.« Er hoffte, mit dem stillschweigenden Eingeständnis des Rangwechsels zwischen ihnen das Treffen gleich in ersprießliche Bahnen gelenkt zu haben. Man konnte sich darüber streiten, wer von den beiden reicher war oder in der wirklichen Welt über mehr Macht verfügte – Jiun Bhao hatte ganze asiatische Volkswirtschaften fest in der Hand. Ihr einziger Rivale in beiden Punkten war Robert Wells, aber der Amerikaner hatte nie ein Imperium von der Art zu schaffen versucht, wie sowohl Jongleur als auch Jiun eines aufgebaut hatten. Doch bis jetzt war Jongleur durch seine Position als Vorsitzender der Bruderschaft unbestreitbar im Vorteil gewesen, wenigstens in allem, was mit dem Gral zusammenhing. Bis jetzt.
    Ein Weilchen saßen beide Männer einfach da und lauschten dem Wasser. Ein kleiner brauner Spatz kam aus der unergründlichen Höhe über dem Hof herab und setzte sich auf den Zweig einer Zierpflaume. Jiun betrachtete den Vogel, und dieser erwiderte seinen Blick mit gut simulierter Unbefangenheit.
    »Apropos«, sagte Jiun, indem er sich wieder Jongleur zuwandte. »Ich hoffe, daß du noch Zeit zur friedlichen Besinnung findest, mein Freund. Es sind hektische Tage gerade.« Der Finanzier

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