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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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irgendwo verstecken. Sie fluchte heftig, nicht weil sie um ihn bangte oder seine Gesellschaft vermißte, sondern weil sie eine Art Verantwortung für ihn übernommen hatte und dann wieder einmal das Opfer ihrer Achtlosigkeit geworden war. Nachdem sie oben auf der Böschung beinahe so lange gewartet hatte wie vorher unten, stapfte sie wieder zu der Baumgruppe hinunter.
    Ich muß die Stelle markieren, beschloß sie, wenn ich schon nicht nach ihm suchen gehe. Und ich muß !Xabbu und die andern wissen lassen, daß ich hier langgekommen bin. Aber da gab es immer noch das Problem, wie sie das anstellen sollte. Während sie darüber nachdachte, zupfte sie geistesabwesend an ihrer spärlichen selbstgemachten Garderobe – je ausgeprägter die Landschaft wurde, um so bloßer und ungeschützter fühlte sie sich –, und auf einmal war ihr klar, womit sie signalisieren konnte, daß sie hier gewesen war.
    Sie riß einen lose hängenden hellen Stoffstreifen ganz ab, band ihn an einen dünnen Zweig, der weit über seine blassen Nachbarn hinausragte, und dachte gerade, daß sie in kürzester Zeit wieder nackt war, wenn sie das noch öfter machen mußte, als sich in den Zweigen dicht neben ihrem Kopf etwas bewegte. Sie sprang erschrocken zurück.
    Es war ein Vogel … oder wenigstens eine vogelartige Gestalt, kleiner als ihre geballte Faust. Mit seiner unscharfen Kontur und seinen unbeständigen Farben, schillernd wie Licht auf verstreuten Glasscherben, wirkte er nur unwesentlich realer als die Landschaft. Er hüpfte auf seinem Ast zu ihr hin und legte den Kopf schief – die Andeutung eines Auges, ein verschwommener Schnabelumriß. Die vertrauten Bewegungen gaben ihr beinahe das Gefühl, diese Welt doch irgendwie begreifen zu können. Da wippte der Vogel mit dem Kopf und sagte: »Hätt ich nie.«
    Renie stieß einen Schreckenslaut aus und wich ein paar Schritte zurück. Hier regierte der Wahnsinn, sagte sie sich, alles war möglich, darum gab es auch nichts zu staunen. »Hast du was gesagt?« fragte sie.
    Der Vogel änderte abermals die Haltung und piepste: »Hätt ich nie gedacht.« Im nächsten Augenblick sauste er wie ein kleiner Regenbogenblitz in die Luft und flog über den Fluß davon.
    Renie zögerte nur kurz. Sie blickte auf den am Ast wehenden weißen Fetzen, dann wieder zurück ins Tal, eine in ewigem Zwielicht erstarrte gläserne Welt. Sie eilte hinter dem Vogel her, der schon nur mehr ein Pünktchen am changierenden Himmel war.
     
    Sie fand eine flache Stelle und platschte durch den Fluß. Am anderen Ufer angekommen merkte sie, daß das Licht sich subtil verändert hatte. Die Umgebung war mit einemmal richtig solide, so als ob Renie eine Barriere durchschritten hätte, von der die andrängende Realität am Abfließen gehindert wurde, doch das war noch das wenigste, was sie beschäftigte. Die neue Welt um sie herum war so absonderlich, daß sie den davonflatternden Vogel kaum im Blick behalten konnte.
    An die Stelle von sanften Hügeln und Wiesen war eine Landschaft von Rinnen und Graten getreten, die aussah, als hätte eine mächtige Bodenbewegung die Erdoberfläche in gigantische Runzeln zusammengeschoben. Das Gelände war rauh und steinig, die Vegetation bestand nur aus knorrigen Kiefern und zerzaustem Buschwerk im Nebel. Der hellere Sonnenschein wurde gleich wieder von einer dichten Wolkendecke verschluckt, so daß die Welt, auch wenn sie an Stofflichkeit gewonnen hatte, nicht sehr viel bunter war.
    Sie blieb keuchend auf einer Kuppe stehen und beobachtete den fliegenden Vogel. Auch er war solider geworden, obwohl sie aus dieser Entfernung seine Farbe kaum wahrnehmen konnte. Er landete auf einem krummen Kiefernast hundert Meter unter ihr am Hang. Sein Ruf »… nie gedacht … nie gedacht …« tönte leise und klagend herauf wie das Quengeln eines müden Kindes.
    Der zwischen zwei schroffen Felsen hindurch bergab führende Weg war steil, aber Renie war zu angestrengt und zu lange gelaufen, um jetzt umzukehren. Dies war, abgesehen von ihren Freunden, die erste Stimme, die sie seit dem Verschwinden des Berges gehört hatte, das erste neue Lebewesen, das ihr begegnet war.
    Während sie den Abhang hinunterstiefelte, blieb der Vogel ruhig auf seinem Ast sitzen, als wartete er auf sie. Die Nebelschwaden ringelten sich in einer trägen, aber überraschend kalten Brise – sie mußte feststellen, daß nicht alle Aspekte der wiederkehrenden Realität gleichermaßen willkommen waren –, und sie meinte, in den Kurven des

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