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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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voller Farben und Formen war. Weißt du noch, wie es mit dem schwarzen Berg ging? Erst war er fest und ganz lebensecht, und später begann er sich langsam aufzulösen. Ich denke, dasselbe vollzieht sich hier.«
    Zum erstenmal seit Stunden bekam Sam es wieder mit der Angst zu tun. Wenn !Xabbu recht hatte, dann marschierten sie schneller in die simulierte Wirklichkeit hinein, als diese sich verflüchtigte, aber konnte das ewig anhalten? Oder würde es ihnen am Ende wieder so gehen wie auf dem Berg, daß die ganze Welt um sie herum verschwand? Würden sie endlos so weiterziehen müssen, durch unfertige Gegenden, die um sie herum Gestalt annahmen und gleich wieder verloren, ohne daß sie sich einfach einmal an einem stabilen Ort aufhalten und leben konnten wie Menschen?
    Jongleur hatte ein paar Schritte weiter stromaufwärts am Ufer gestanden. Jetzt drehte er sich um und kam mit versonnenem Gesichtsausdruck langsam zu ihnen zurück.
    »Es erinnert mich an Nordafrika«, sagte er. »Als ich jung war, habe ich einmal ein Jahr dort verbracht, in Agadir. Nicht die Landschaft, die sich hier gerade herausbildet – die ist beinahe europäisch oder wäre es, wenn sie ausgeformt wäre. Aber das Licht, das erinnert mich an die Wüstenstädte in den frühen Morgenstunden, die silbernen Dünen, das von den Häusern reflektierte weiße Licht, alles hell und ausgebleicht wie Leinen.« Er wandte sich von seiner Landschaftsbetrachtung ab und merkte, daß Sam und !Xabbu ihn beide ungläubig anstarrten. Seine Mundwinkel gingen mürrisch nach unten. »Was ist, dachtet ihr, ich wäre niemals jung gewesen? Ich hätte nie etwas anderes gesehen als das Innere eines biomedizinischen Versorgungstanks?«
    Sam setzte sich gerade hin. »Nein. Wir dachten bloß, du hättest für nichts einen Sinn, das dir nicht gehört. Das nicht irgendwer für dich gebaut hat.«
    Eine Sekunde lang schien es, als würde er lächeln, aber er behielt sein virtuelles Gesicht so eisern unter Kontrolle wie vordem seine ägyptische Maske. »Touché, zugegeben. Aber daneben, wenn dieser Angriff mich verwunden sollte. Bin ich kalt, hart, ungeheuerlich? Selbstverständlich. Habe ich meine ach so schrecklichen Taten mit dem Vorsatz verübt, die Erniedrigten und Beleidigten zu unterdrücken oder auch nur meinen Berg an Reichtümern weiter anzuhäufen wie ein auf seinem Hort sitzender Drache? Nein. Was ich getan habe, habe ich deshalb getan, weil ich das Leben liebe.«
    »Was?« Sam ließ ihn nur zu gern den Ekel in ihrer Stimme hören. »Das ist doch wohl der hinterletzte Fen-fen …«
    »Nein, Kind, das ist es nicht.« Er schaute wieder zu den fernen glasklaren Hügeln hinüber. »Ich habe nicht gesagt, daß ich alles Leben liebe. Ich bin kein Heuchler. Die meisten der Milliarden Kriecher auf der Erde bedeuten mir so wenig, wie die Insekten und kleineren Wesen, die du im Gras zertrittst, dir bedeuten. Es ist mein Leben, das ich liebe, und das schließt die Schönheit ein, die ich gesehen und gefühlt habe. Meine Erinnerungen sind es, meine Erfahrungen, die ich vor dem Tod zu bewahren suche. Das Glück anderer Menschen bedeutet mir wenig, das stimmt – aber es würde mir noch weniger bedeuten, wenn ich tot wäre.« Er drehte sich langsam um. Seine Augen fixierten sie unangenehm scharf. Ihr Haß auf den Mann hatte Sam verkennen lassen, was hinter der Maske war, aber in diesem Moment fühlte sie die ungeheure Kraft in ihm, die ihn befähigt hatte, Regierungen umzustoßen wie Kegel. »Und wie steht es mit dir, Kind? Meinst du, du wirst ewig leben? Würde dir das nicht gefallen?«
    »Nicht, wenn ich dafür andern Menschen was tun müßte.« Sie war plötzlich den Tränen nahe. »Nicht, wenn ich Kindern was tun müßte …!«
    »Ja, vielleicht. Aber solange dir diese Möglichkeit nicht geboten wird, wirst du es niemals mit Sicherheit wissen, nicht wahr? Und vor allem nicht bis zu dem Tag, wo dir diese Möglichkeit geboten wird und du weißt, daß der Tod unmittelbar hinter dir steht…«
    !Xabbu hatte dem Gespräch zugehört, aber plötzlich zog etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Er stand auf und blickte an Jongleur vorbei das Flußufer hinauf.
    »Was ist los?« fragte Sam. » !Xabbu , was ist los?«
    Statt ihr zu antworten, lief er mit langen Sprüngen flußaufwärts wie eine Gazelle, über fast unsichtbare Steine hinweg. Im Nu hatte er eine Gruppe kleiner, farbloser Bäume erreicht, die sich fiedrig am Ufer abzeichneten wie der Rauch mehrerer Feuer. Er zog etwas von

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