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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Landes verborgene, nahezu menschenähnliche Formen erkennen zu können, die an riesige Körper unter der Erde denken ließen. In dem fahlen, diesigen Licht war es nicht genau auszumachen, aber es erinnerte sie unangenehm an die monströse Gestalt des Andern, mit der sie auf dem Berggipfel konfrontiert worden waren. Sie zitterte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder fest auf den felsigen Boden unter ihren Füßen.
    Der Vogel beobachtete ihr stolperndes Näherkommen mit geneigtem Kopf. Er hatte jetzt Farbe und Form – ein Bündel rötlich brauner Federn mit einem glänzenden schwarzen Auge –, aber in irgendeiner Hinsicht war er immer noch ungewöhnlich, wie nicht ganz vollständig.
    »Hätt ich nie gedacht, daß ich hinkommen würde«, sagte der Vogel plötzlich.
    »Wo hinkommen?« fragte Renie. »Wer bist du? Wo sind wir hier?«
    »Wir sind lange gegangen«, zirpte der Vogel traurig. »Hätt ich nie gedacht, daß ich …« Unvermittelt stellte er sich auf und flatterte mit den Flügeln, als wollte er abheben. Renie krampfte sich das Herz zusammen, doch der Vogel ließ sich wieder auf dem Ast nieder. »Hätt ich nie gedacht, daß ich hinkommen würde«, bemerkte er abermals. »Mama meinte, es würde dauern. Wir sind lange gegangen.«
    »Woher seid ihr gekommen? Kannst du mit mir sprechen? Hallo?« Renie trat langsam einen Schritt näher und senkte die Stimme. »Ich will dir nichts tun. Bitte, sprich mit mir!«
    Der Vogel sah sie wieder an, dann hüpfte er unvermittelt vom Ast und schwirrte talwärts davon. »Hätt ich nie gedacht …!« rief er schrill, bevor er im Nebel entschwand.
    »Himmel, Arsch und Zwirn!« Den Tränen nahe ließ Renie sich auf den steinigen Boden plumpsen. Sie hatte einen guten Rastplatz an dem Schemenfluß für einen anstrengenden Gewaltlauf und einen kalten, nebeligen Hang aufgegeben. Jetzt brauchte sie eine lange Verschnaufpause, bevor sie den beschwerlichen Weg zurück antreten konnte. »Himmel, Arsch und Zwirn!«
     
    Erst als ihr das Kinn auf die Brust sackte und sie den Kopf hochriß, merkte sie, daß sie geschlafen hatte – ob Sekunden oder Minuten, konnte sie nicht sagen, aber die diesige Landschaft kam ihr jetzt dunkler vor, die Schatten in den Schründen am Hang tiefer, der Himmel nicht mehr perlmuttfarben, sondern gewittergrau. Renie erhob sich taumelnd, und dabei wurde ihr der kalt über den Berg wehende Wind und ihre spärliche Bekleidung scharf bewußt. Sie fluchte leise, aber leidenschaftlich bei der Vorstellung, eine Nacht schlotternd im Freien verbringen zu müssen. Sie und ihre Gefährten hatten sich von der zimmertemperierten Atmosphäre des unfertigen Landes verwöhnen lassen.
    Sie kletterte ein kurzes Stück hangaufwärts und blickte sich dort um, solange das Licht es noch zuließ. Der über dem Boden hängende Nebel war höher gestiegen. Ihre Freunde hätten, während sie schlief, nur einen Steinwurf entfernt vorbeigehen können, ohne sie zu bemerken.
    Als sie den Kopf drehte, meinte sie, nicht allzu weit entfernt den Fluß zu hören, unsichtbar in einem kleinen Tal. Leicht zur Seite gelehnt ging sie am Hang entlang auf das Geräusch zu, immer mit den Füßen nach festem Untergrund tastend. Da sie keine Schuhe anhatte, konnte sie wenigstens dafür dankbar sein, daß der Boden mehr aus weicher Erde als aus scharfen Steinen bestand.
    Der Fluß blieb unauffindbar. Tatsächlich konnte sie nichts erblicken, das wie das niedrige, sanfte Wiesenland aussah, in dem sie sich kurz vorher noch befunden hatte.
    Verlaufen. Und jetzt wird es rasch Nacht.
    Sie war auf einem kleinen Felsplateau stehengeblieben, um wieder zu Atem zu kommen, als sie den seltsamen Ton hörte. Der Wind hatte sich gelegt, aber ein dünnes Jaulen erklang über ihr, ein langgezogenes blubberndes Pfeifen. Renies Nackenhaut straffte sich. Als sich vor ihr und deutlich weiter unten am Hang ein zweiter Heulton erhob, verwandelte sich ihre Beklommenheit in Furcht. Die erste Stimme mußte ihn auch gehört haben, denn sie antwortete mit einem klagend-kollernden Ruf, der nach einer Unterwasserhyäne klang, und Renie stockte das Herz.
    Zur näheren Analyse blieb keine Zeit – sie wußte nur, daß sie von diesen Wesen, einerlei was sie waren, nicht in die Zange genommen werden wollte. Sie machte hastig kehrt, wobei sie in dem schwindenden Licht mehrmals ausrutschte und zweimal einem langen und möglicherweise tödlichen Absturz nur knapp entging.
    Weiter, bloß nicht stehenbleiben… Sie hatte irgendwie das sichere

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