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Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Titel: Otherland 4: Meer des silbernen Lichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Gefühl, daß diese dort über ihr und hinter ihr an den Hängen heulenden Wesen ihre Töne nicht nur einfach so von sich gaben, sondern daß sie hinter etwas her waren. Hinter Renie zum Beispiel, wenn sie sehr großes Pech hatte. Oder vielleicht hinter allem, was warm war und sich bewegte, was auch nicht viel besser war.
    Der kalte Wind machte ihre Haut ganz taub, wodurch sie relativ unempfindlich wurde für die zahlreichen Kratzer und Stöße, die sie bei ihrem Gestolper abbekam, aber sie spürte, wie ihr die Kälte gleichzeitig die Kraft aussaugte, und begriff, daß sie das Tempo nicht lange würde durchhalten können. Der Ruf von der Kuppe schien jetzt von weiter weg zu kommen, doch die Antwort war mindestens so laut wie zuvor, wenn nicht lauter. Renie riskierte einen Blick zurück und wünschte sofort, sie hätte es nicht getan. Etwas Bleiches bewegte sich über den Hang, als verfolgte es ihre Spuren.
    Der bei dem trüben Licht kaum zu erkennende Umriß flatterte und bauschte sich, als hätte sich jemand ein Bettlaken übergeworfen, war aber größer als ein Mensch und auch sonst ganz anders, eine von wabernden Schatten umflossene Gespenstergestalt, in der immer wieder einmal kurz die Andeutung eines schaurigen Gesichts auftauchte. Während sie wie gebannt darauf starrte, ging in der Mitte dieser Fratze ein dunkles Loch auf, aus dem der jammernde, blubbernde Schrei kam. Als sein Genosse den Ruf von oben erwiderte, ein Stück weiter weg, aber beileibe nicht weit genug, daß sie den Hang hinauf hätte fliehen können, lief Renie los, so schnell sie konnte, ohne noch weiter auf ihre Sicherheit zu achten. Der Ton der Verfolger jagte ihr furchtbare Angst ein. Alles, selbst hier in den Tod zu stürzen, war besser, als von solchen bleichen, formlosen Dingern geschnappt zu werden.
    Ihre Phantasie wäre fast Wirklichkeit geworden, als ihr Fuß an einer Stelle, die sie für festen Boden gehalten hatte, durch eine Schicht aus herabgefallenen Ästen brach. Sie ruderte mit den Armen, dann verlor sie das Gleichgewicht, fiel hin und rollte bergab. Doch sie hatte Glück, denn ein knorriger alter Baum, von den Winden vieler Jahre bis zum Boden gebeugt, stand genau in ihrer Bahn. Als sie sich zerschunden und blutend aus dem Ästegewirr befreite, erscholl ein weiterer gurgelnder Schrei, der jetzt aber ferner klang.
    Ihre Freude darüber, daß sie so weit nach unten gerollt war, verging augenblicklich, als ihr klar wurde, daß dieser Ruf von unten kam – ein dritter Jäger. Wie zur Bestätigung erhoben die beiden anderen über ihr wieder die Stimme, lauter diesmal, als spürten sie, daß die Jagd sich dem Ende näherte, daß ihrem Opfer die Kräfte ausgingen.
    Hechelnd duckte Renie sich nieder, von nutzlosen Schreckensbildern erfüllt. Sie hatten sie umzingelt, vielleicht aus schierem animalischen Instinkt, vielleicht weil sie es von Anfang an so geplant hatten. Sie saß in der Falle – schon jetzt meinte sie, den am nächsten herangekommenen Verfolger sehen zu können, eine fahle Gestalt, nur wenig dichter als der Nebel, die sich langsam, aber unerbittlich am Hang auf sie zubewegte, beinlos hüpfend wie eine Qualle in einer Meeresströmung. Renies Herz hämmerte wie eine Rhythmusmaschine auf Hochtouren.
    Da merkte sie, daß sie das Feuerzeug umklammert hielt, und zog es aus ihrem dünnen Oberteil hervor. Es war sinnlos, aber dennoch mußte sie unbedingt eine Stimme hören, irgendeine. Es war ihr mit einemmal schleierhaft, welche Gefahr ihr so groß erschienen war, daß sie nicht schon vorher davon Gebrauch gemacht hatte.
    »Hallo, M-Martine … oder s-sonstwer?« Atemlos vor Angst konnte sie nur mühsam sprechen. »Hört mich jemand? Bitte, gebt Antwort!« Schweigen – selbst die gespenstischen Häscher waren verstummt. Als Renie abermals die Befehlssequenz probierte, sah sie nur noch treibende Nebelschwaden und graue Baumschatten. »Martine? Ich hab dich letztens gehört – kannst du mich jetzt hören?«
    Die Stimme, die ihr antwortete, war schwach, aber überraschend klar, so klar, daß im ersten Moment eine illusorische Hoffnung in Renie aufwallte, als könnte es sein, daß ihre Freunde nur wenige Meter entfernt waren und plötzlich zur ihrer Rettung aus dem Nebel gestürmt kamen. »Renie? Bist du das?« Pause. »Renie? Wir hören dich. Sprich!«
    »Lieber Himmel«, flüsterte Renie. »Du bist es, Martine.« Sie rang um Fassung – es war so gut wie sicher, daß ihre Freunde in dieser Situation nichts für sie tun konnten.

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